MMT-Theoretikerin Monika Stemmer: „Staatsschulden werden grundlos dämonisiert“
Interview Monika Stemmer studierte ursprünglich Rechtswissenschaften und Malerei. Seit der Finanzkrise im Jahr 2008 interessiert sie sich für Geldsysteme und die Modern Monetary Theory und erklärt Nicht-Ökonomen Wirtschaftspolitik
Monika Stemmer im Interview: „Die Kinder müssen die Staatsschulden nicht zurückzahlen.“
Foto: Hannes Wiedemann für der Freitag
Wer soll das bezahlen, denken wir, wenn wir von Milliardenstaatsschulden lesen, unsere Kinder etwa? Dabei ist die Verschuldung von Staaten etwas ganz anderes, als wenn wir als Privatpersonen selber im Dispo landen oder uns Geld pumpen. Wie die Staatsfinanzierung funktionert, darüber herrscht aber ziemliche Verwirrung. Monika Stemmer will ein bisschen Licht in den Nebel bringen.
der Freitag: Ein ungewöhnlicher Weg, Frau Stemmer: Jura und Malerei studiert und dann autodidaktisch Geldtheorie. Wie konnte das passieren?
Monika Stemmer: Mit dem Wissen aus Zeitungs- und sonstiger Lektüre kam ich nach der Finanzkrise 2008 nicht weiter und begann, mich intensiver mit dem Thema Wirtschaft zu befassen. Dann kam Occupy 2011. Soll man Banken retten oder pleitegehen lassen? Was passiert, we
Dann kam Occupy 2011. Soll man Banken retten oder pleitegehen lassen? Was passiert, wenn sie pleitegehen? Ich hatte neun Jahre in Italien gelebt, wo es seit der Einführung des Euro nicht gut lief. 2011 schossen dort die Zinsen in die Höhe. Berlusconi, dem man keine Träne nachweinen braucht, musste deswegen zurücktreten. Diese Phänomene wollte ich verstehen. Ich habe gelesen und begriffen, dass die neoklassische Mainstream-Ökonomie die damaligen Krisen weder vorhersehen noch sinnvoll erklären konnte – ganz im Gegensatz zu keynesianischen Autoren. Schließlich stieß ich auf die „Modern Monetary Theory“, bei der Post-Keynesianer sich das Geldsystem empirisch vorgenommen hatten.Ihr Buch ist den Freundinnen gewidmet, die keine Bücher über Wirtschaft lesen, es aber trotzdem wissen wollen.Ökonomisches Wissen ist notwendig. Aber es gibt so viele Krisen, so viele ökonomische Theorien und Meinungen: Schwer, herauszubekommen, von welcher Seite man angreifen soll. Viele lassen es bleiben. Gleichzeitig wollten viele Menschen und vor allem viele Frauen, sobald sie hörten, womit ich mich beschäftige, über die Zusammenhänge von Geldsystem, Demokratie, Verteilung und Wachstum reden.MMT, wie die Theorie kurz genannt wird, schreckt nicht ab?Ich hoffe nicht. Der Vorteil der Modern Monetary Theory (MMT) ist, dass sie eine Analyse des bestehenden Geldsystems vorlegt. So bekommt die Sache festen Boden. Man kriegt etwas an die Hand, was nicht mehr Glaubensfrage ist, und damit auch einen Schlüssel für das Wirtschaftssystem. MMT beschreibt, was genau Finanzministerien machen, Zentralbanken und Banken. Beim Geld wird alles in Bilanzen dokumentiert. Es entsteht in Bilanzen, wird über diese transferiert und erlischt in Bilanzen. Die Beschreibung des Geldsystems durch MMT ist damit falsifizierbar. Wenn die MMTler kritisiert werden, dann nie für diesen deskriptiven, sondern für den normativen Teil, also für ihre Politikvorschläge. Aber bereits der deskriptive Teil stellt die Geldtheorie der neoklassischen Schule auf den Kopf.Ihr Buch ist klar und verständlich geschrieben. Erklären Sie mir bitte, was MMT ist?MMT erklärt über das Geld- das Wirtschaftssystem und die Hierarchie zwischen Staat und Privaten. Sie zeigt, dass der Staat die Währung macht und die Banken ein Geld zweiter Ordnung durch Kreditvergabe schöpfen, das seinen Wert erst über die staatliche Währung erhält. Die Banken sind also immer abhängig von der staatlichen Zentralbank. Dagegen ist der Staat grundsätzlich nicht abhängig von den Banken. Deswegen kann er Banken und Unternehmen in der Krise retten. Er muss es leider auch, weil der ganze private Sektor immer prozyklisch wie eine Herde agiert und Krisen erzeugt und verstärkt. Nur der Staat spielt nach eigenen, souveränen Regeln und kann in Krisen antizyklisch agieren. MMT zeigt auch, dass Schulden in unserem Geldsystem unvermeidlich sind – und es vielmehr darauf ankommt, wer sich die Schulden leisten kann. Und das ist der Staat.Der Staat hat alle Trümpfe in der Hand?Ja. Er macht die Währung, die Regeln und er erhebt die Steuern. Er allein kann sich in der Krise antizyklisch verhalten und ist mit seinem Kreislauf aus Geldschöpfung und Besteuerung nicht von Gewinn und Wachstum abhängig. Alles, was mit den Ressourcen eines Landes realisierbar ist, ist auch finanzierbar. Unsere demokratischen Staaten haben noch viel politischen Spielraum, wenn wir es wollen.Ihr Ausgangspunkt sind vier Grundtatsachen unseres Geldsystems: Das Währungsmonopol des Staates, Steuern geben der Währung ihren Wert, Banken schöpfen Geld zweiter Ordnung (Giralgeld) und alles Geld entsteht in Bilanzen. Warum geben Steuern der Währung ihren Wert?Der Staat hat das Währungsmonopol. Um Geld auszugeben, muss er also erst einmal keine Steuern erheben. Bestritte er allerdings jeden Haushalt über Geldschöpfung, käme es zu Inflation. Daher steuert der Staat den Großteil seiner Ausgaben übers Jahr wieder zurück und hält die Währung damit stabil. Gleichzeitig macht die Besteuerung die Währung für alle verbindlich, denn alle müssen Steuern zahlen. Nur der Staat kann so einen Kreislauf aus Geldschöpfung und Besteuerung erzeugen – der zudem eine jährliche Umverteilung ermöglicht.Trifft das auf alle Staaten zu? Die starken, die schwachen? Wir leben in einer Welt der Ungleichheit.Natürlich ist alles komplexer. Je stärker ein Staat wirtschaftlich ist, desto stärker ist der Außenwert seiner Währung. Und es gibt Länder, deren Währungen abstürzen. Dahinter stehen allerdings immer Fremdwährungsschulden – denn dann wirkt das Privileg des staatliche Währungsmonopols nicht mehr.Was ist mit Staaten wie Griechenland und Italien?Die Eurozone ist ein ganz spezieller Fall. Wir haben aus gegenseitigem Misstrauen eine Währung konzipiert, mit Regeln, die die staatliche Geldschöpfung der einzelnen Regierungen stark blockiert. Es wurde aber auch keine andere Instanz geschaffen, die für die nötige Geldschöpfung insbesondere in Krisenzeiten sorgt. Damit verordnet die Eurozone einem Teil ihrer Mitglieder künstliche Armut. Staaten oder Staatengemeinschaften machen selbst die Regeln für ihre Währungen – diese Regeln können natürlich auch unglaublich dumm sein.Was ist eine dumme Regel?Dass Euro-Länder, deren Staatsverschuldung über 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt, keine neuen Schulden mehr machen dürfen. Diese Grenze ist völlig willkürlich, es gibt für sie keine empirischen Belege. Länder, wie zum Beispiel Italien, die mit hohen Altschulden eingetreten sind, wurden so von vornherein benachteiligt. Weil ihnen selbst in Krisenzeiten oft die staatliche Intervention verwehrt war. Die Eurozone hat Italien im Grunde zu einer zwanzigjährigen Rezession verdonnert. Das ist verrückt. Und gefährlich für den Euro und Europa. Es bleibt zu hoffen, dass diese Regel, die wegen Corona bis Ende 2023 ausgesetzt wurde, nicht wieder in Kraft tritt.Sie schreiben in dem Buch über das falsche Verständnis von der Natur der Staatsdefizite. Was sagt die MMT zur „schwarzen Null“?Wenn der Staat seine eigene Währung herausgibt, muss er die Währung schöpfen und ausgeben. Er kann sie sich von niemand anderem leihen, denn diese Währung macht nur er. Aufgrund unserer Kreditgeldtradition wird jede Form von Geldschöpfung mit einer gleich hohen Schuld verbucht. Tatsächlich ist die Schuld des Geldherausgebers aber eine völlig andere Kategorie als die Schuld anderer Wirtschaftsteilnehmer:innen. Die Staatsschuld ist im Grunde einfach die notwendige bilanzielle Rückseite des Währungsmonopols. Es ist ein Missverständnis, dass Staatsanleihen der Finanzierung des Staates dienen. Sie haben andere Funktionen. Zudem kann der Staat die Staatsanleihen dank seines Währungsmonopols immer ablösen. Ein Staat, der nur in seiner eigenen Währung verschuldet ist, kann daher nicht pleitegehen. Und da in unserem Geldsystem irgendjemand die Schulden haben muss, ist es am besten der Staat, insbesondere der wirtschaftlich starke Staat, denn er kann sie sich leisten. Staatsschulden werden also grundlos dämonisiert. Unsere Kinder müssen die Staatsschulden auch nicht zurückzahlen. Das passiert meist auch nicht. Wenn die Regierung es dennoch versucht, folgt in der Regel eine Wirtschaftskrise, weil Nachfrage entzogen wird – bald darauf müssen noch mehr Schulden gemacht werden.Findet das so in der Praxis statt?Wie gesagt: MMT beschreibt den Ist-Zustand unseres Geldsystems. In der Pandemie und der Energiepreiskrise konnten wir genau beobachten: Zur Not kann der Staat Hunderte Milliarden aus dem Hut zaubern – ohne erst die Steuern zu erhöhen. In der Eurozone können wir sehen, wie man sein staatliches Währungsmonopol kastrieren kann, wenn man es nicht versteht. Aber es bleibt dennoch der Staat oder die Staatengemeinschaft, die das Währungsmonopol ausübt und das kann, wenn sie sich nur endlich einigt. Tatsächlich haben wir in der Coronakrise sogar gesehen, wie die Europäische Kommission auf einmal in großem Stil zur Geldschöpferin wurde: Sie nahm die Schulden auf ihre Kappe, das heißt in ihre eigene Bilanz. Gedeckt war diese Geldschöpfung über das Steuerprivileg der Mitgliedsstaaten.Und was schlüge die MMT normativ sonst noch vor?Sie wendet sich gegen die Leitzinspolitik der Zentralbanken, die immer mit Arbeitslosigkeit droht oder sie sogar herbeiführt. Denn bei Inflation erhöht sie die Zinsen und prügelt die Wirtschaft notfalls in die Rezession. Dagegen ist die Empfehlung der MMT, nachfragegetriebene Inflation über die Besteuerung zu bekämpfen. Und noch weitgehender: am besten eine staatliche Arbeitsplatzgarantie einzuführen, die Geldwertstabilität und Vollbeschäftigung gleichzeitig ermöglichen würde.Placeholder infobox-1