In allen Reiseführern steht, sie sei die Prachtstraße Berlins, die beliebteste Flaniermeile, der geschichtsträchtigste Boulevard, das A und das O für jeden Touristen, ein Eldorado für Liebhaber des Barocks, Klassizismus, Neoklassizismus, preußischen Bauens und Denkens, deutscher Ausrichtung von Bäumen und Laternen, internationalen Flairs, politischer und kultureller Meilen, die noch die Aufmerksamkeit jedes Fremden bannen. Reiseführer, sollten sie jemals von Frauen geschrieben werden, näherten sich der Gegend vielleicht etwas lustvoller noch, wiesen darauf hin, dass Frau nirgendwo besser sieht und in besserem Licht gesehen wird - zumindest wenn die Sonne scheint -, dass Einsteins Erben, die Besitzer einer Reihe von Restaurationen sind, im Sommer Stühle und Tische auf den grünen Mittelstreifen stellen, um ihre Kellner mit proseccobeladenen Tabletts über die Straße zu jagen.
Nichts geht über Unter den Linden. Wer nach Berlin kommt und den Pariser Platz nicht umrundet, ist umsonst da gewesen - die Werbung nennt so etwas Eyecatcher, die Historiker bewerten es als Bildungsprogramm, die Stadtplaner als gelungene Ost-West-Achse, die Reiseveranstalter als Highlight.
Doch jeder Reiseführer und jede Reiseführerin sollte sich hüten, Unter den Linden in die "Tipps für den späten Abend und die Nacht" aufzunehmen. Denn am späten Abend und gar in der Nacht bietet Unter den Linden das, was in mittleren Kleinstädten Ausfallstraßen und Gewerbegebiete vorhalten. Nur mit dem Unterschied, dass man bei letzteren nicht von gepflegter Langeweile reden kann.
Am späten Abend und in der Nacht wunderte es eine nicht, die drei apokalyptischen Reiter auf dem Mittelstreifen der Berliner Flaniermeile reiten zu sehen, auf ausgedienten und ausgemusterten Polizeigäulen vielleicht und mit dreispitzigen Hüten auf den kahlen Schädeln.
So ist es zumindest an all jenen Tagen, die nicht zu einem Wochenende zählen, beispielsweise an einem kalten, klaren und mondbeschienenen Donnerstagabend nach einer seltsam befremdlichen aber nicht uninteressanten Veranstaltung in der prachtvollen Botschaft Russlands.
Die Veranstaltung, so war der Plan, sollte nur Auftakt einer lang geplanten Freundinnen-Nacht sein, sozusagen Bildung und Wodka in einem, um sich aufzubauen und den Kreislauf in Schwung zu bringen. Die Russische Botschaft hielt innen, was sie außen verspricht, eine Pracht, die sich nicht versteckt und nichts von Understatement hält, muskelbepackte Männer, die den Einlass und die Garderobe machten und zugleich ein wachsames Auge auf das Geschehen hatten, liebliche Kellnerinnen, die nach Parfüms mit starker Kopf- und Basisnote dufteten, und ein Büfett, das Krimskoje, Wodka und White Russian bot, ein Cocktail, der seit dem Film The big Lebowski an die Spitze der Charts geschnellt ist. Wunderbar das alles.
Nach einem Vortrag über die deutsch-russischen Beziehungen von 1904 bis 2004, russischen Liedern und Stücken, Wodka ohne Gorbatschow und randständigen Beobachtungen eines geladenen Publikums, das sich zum allergrößten Teil am kommenden Abend noch einmal beim Presseball begegnen würde, ging es los auf die Prachtmeile und die Suche nach geeigneten Restaurationen, um zu verhindern, dass der fröhlich machende Alkoholpegel aus reiner Unachtsamkeit wieder sinkt.
Vorbei an zahlreichen bereits geschlossenen Etablissements, rein in die erste noch offene Möglichkeit, das "Lindenlife", erfüllt von einer kleinen Dankbarkeit, denn unterwegs war einer niemand begegnet, kein Mensch, kein Menschenpaar und schon gar keine Menschengruppe. Fast hatten wir befürchtet, der Notstand sei ausgerufen, ohne dass uns darüber Nachricht gegeben worden wäre.
Wir bekamen Zeit für genau zwei schnelle Bestellungen und zwanzig Sätze, dann wurde die Kaffeemaschine geputzt und die Kasse gewartet und die Rechnung gebracht. Die Geisterstunde war angebrochen, offensichtlich ein Signal, Unter den Linden die Bürgersteige einzurollen und die Sicherheitsschlösser zu prüfen.
Es gelang uns noch, in einem nächsten Restaurant namens "Dressler" einen Prosecco zu ersteigern. Eigentlich sei ja schon geschlossen wurde uns beschieden, aber bitte, eine Ausnahme könne man machen. Die zweite Ausnahme, um die wir baten, wurde allerdings nicht genehmigt.
Nun wagten wir mehr als einen Schritt zurück und flanierten auf der Meile zum Pariser Platz, wo uns das heulende Elend überkam. Nur im Adlon brannte noch Licht, doch wir wollten nicht wissen, welch teures Vergnügen uns da erwartet.
Das war es denn auch. Am S-Bahnhof Friedrichstraße sahen wir die ersten lebenden Seelen wieder. Bleich hockten sie in Imbissbuden und sahen die Welt mit anderen Augen als wir.
Wir kamen gerade aus dem Elend. Sie waren schon lange mittendrin.
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