Trivial

BERLINER ABENDE Unsere Entscheidungen hatten nichts mit dem wirklichen Leben zu tun. Sie waren purer Voluntarismus oder "voll krass", wie meine Tochter es gern ...

Unsere Entscheidungen hatten nichts mit dem wirklichen Leben zu tun. Sie waren purer Voluntarismus oder "voll krass", wie meine Tochter es gern nennt. Wir hatten zwei Kinder zur Verfügung, einen stimmbrüchigen Gymnasiasten, eine Abiturientin, eine Chefsekretärin, eine Grafikerin, einen Wörter-Aufschreiber und dessen Liebste. Das bin ich.

Im wirklichen Leben hatte die Fußball-Europameisterschaft begonnen. Wir wollten Trivial Pursuit spielen. Erst kochen, dann essen, dann spielen, dann ins Bett fallen und Pfingsten buchstabieren.

Es war immer noch das alte Spiel. Aus dem Westen und mit all den Fragen, die Menschen aus dem Westen nicht fremd sind: Wie lautet der Spitzname des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen? Wessen Kind wurde am 8.8.1988 um 20.08 geboren? Johannes Rau und das Kind von Fergie.

Alles noch vor der Revolution ausgedacht und aufgeschrieben. In welchem Land gibt es die zwölf kältesten Großstädte? Die Frage lässt sich heute nicht mehr beantworten, obwohl es in den Städten weiterhin kalt ist.

Wir hatten nur die ganz schwere Spielversion zur Verfügung. Unzumutbar für Kinder, koreanische Grafikerinnen und ostdeutsche Enddreißigerinnen. Also bildeten wir Mannschaften - zwei an der Zahl, verteilten die Plastenäpfe zum Sammeln der bunten Steinchen und erinnerten uns der einfachen Spielregeln: Fragen stellen, richtige Antworten geben, Punkte sammeln.

Selbstverständlich hatten wir vorher über Fußball geredet. So, wie man in gemischten Gruppen über Fußball spricht. Zuerst richteten der Mann, der angehende Mann und der Junge die Satellitenschüssel auf dem Balkon so aus, dass zumindest ein Sender zu empfangen war - ARD mit Günter Netzer im Studio. Aber der Ton sollte ganz leise gestellt werden. "Wie früher", sagte die Chefsekretärin, "als wir Westfernsehen gucken wollten."

"Jetzt ist ein Bild zu sehen", rief die koreanische Grafikerin den Satellitenmännern auf dem Balkon zu. Wir anderen bauten das Spiel auf und starrten auf Netzers in Rot getauchte Fönfrisur. "Die Farben sind ein bisschen komisch oder? Und für wen bist du jetzt?" Die Frauen einigten sich auf meine Vorgehensweise. Erstens: Wir sind für die Mannschaft mit den hübschesten Männern. Zweitens: Wir sind immer für Italien. Drittens: Wenn Italien gegen Frankreich spielt, sind wir für Frankreich.

An dem Tag mussten wir aber nur für Italien sein, am Nachmittag, und gegen die Türken, und für Frankreich, am frühen Abend, und gegen die Dänen, und im Angesicht von Trivial Pursuit am späteren Abend hatten wir uns zwischen Holland und Tschechien zu entscheiden. Das ging zugunsten der Holländer aus, nur der Gymnasiast entschied sich für Tschechien, weil er da schon drei Mal im Urlaub war.

Wir schielten also ab und zu auf die knackigen Holländer und die liebenswerten Tschechen und in der Halbzeit wieder nach des klugen Netzers Fönfrisur und spielten nebenher Trivial Pursuit mit zwei Mannschaften. Beide waren schlecht. Das lag an dem Spiel und dieser westeuropäischen oder vielleicht auch nur westdeutschen Vorstellung von Allgemeinbildung. Wer hat Mit siebzehn hat man noch Träume gesungen? "Ich kenne nur Peter Alexander", gibt die koreanische Grafikerin zu, "Rex Gildo", kickst der stimmbrüchige Gymnasiast, "ich glaub, es war ne Frau", sagt der Wörter-Aufschreiber. Auf Peggy March kamen wir alle nicht.

Die Holländer schießen ein Tor, der Gymnasiast ist ein wenig sauer. "Wann wurde die Mauer gebaut?". Die Grundschülerin schreit: "Halt, das haben wir gerade in Sachkunde" und gibt auch wirklich die richtige Antwort. Ein Punkt für die Mannschaft mit der koreanischen Grafikerin und dem Wörter-Aufschreiber. "Mensch", beschwert sich die Chefsekretärin, "immer kriegen die diese popligen Fragen." Ich muss dazu schweigen, denn ich habe mindestens schon dreißig Mal versagt an diesem Abend und sogar Gudrun Ensslin mit Ulrike Meinhof verwechselt.

Trivial Pursuit geht aus wie das Hornberger Schießen - vergebliches Schießen der Hornberger auf die belagernden Villinger im Jahre 1519 - niemand gewinnt. Im wahren Leben jedenfalls. Im Fernsehen siegen die Holländer. Das Bier ist alle, der Sonntag vorbei. Pfingstmontag noch, Baden vielleicht, aber es soll ja regnen. Das tut es dann auch und Montag abend um 18 Uhr beginnt der Ernst des Lebens. ZDF, Direktübertragung, Gruppe A, Deutschland-Rumänien. Die Argumente zählen nicht mehr. Nicht ein einziger wirklich gut aussehender Spieler bei den Germanen. Aber plötzlich wollen alle, dass wir Europameister werden, damit in der hoffentlich bald erscheinenden aktualisierten Fassung von Trivial Pursuit bei Sport und Unterhaltung gefragt werden kann: Wer gewann 2000 die Fußball-EM? Und die Antwort einer deutschen Spielfassung auch angemessen ist.

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