Wahlgeheimnisse

Berliner Abende Wir hatten uns am Wahlabend mit der Bürgermeisterin verabredet. Das schien die schönste Variante bei all der Aufregung. Über das weitere Schicksal ...

Wir hatten uns am Wahlabend mit der Bürgermeisterin verabredet. Das schien die schönste Variante bei all der Aufregung. Über das weitere Schicksal der Stadt hatten wir bereits morgens mitentschieden, danach waren wir erfolglos Pilze suchen gegangen und abends sollte das Treffen mit der Bürgermeisterin stattfinden. Es begann im Bezirksamt kurz nach der Prognose. Die Prognose sagte bereits viel über das weitere Schicksal der Stadt aus. Alle würden in den kommenden Tagen ein Problem haben. Bis auf eine Partei, der es gelungen war, mit nur einem einzigen Mann, der Mister Wirtschaft hieß, zehn Prozent der Wählerinnen und Wähler zu verwirren. Mister Wirtschaft spielte im Bezirksamt nur eine beruhigend untergeordnete Rolle. Ein gutaussehender Türke mit graumelierten Haaren wetterte vor dem Fernseher über den liberalen Dünnbrettbohrer und schwor, nie wieder Gebühren zahlen zu wollen, wenn der ZDF-Kommentator weiterhin die Ampelkoalition empfiehlt. Er nannte den Kommentator einen "Scheißcop", griff sich daraufhin die Bürgermeisterin und begann mit ihr zu tanzen.

Man trank Bier und Sekt und Margharita frozen mit Erdbeergeschmack. Die Bürgermeisterin war fröhlich und gab ab und zu ein Interview, im Sitzungssaal der Bezirksverordnetenversammlung schmiedeten die Anwesenden mehrere Koalitionen auf einmal. Jede Variante schien Vor- und Nachteile zu haben, trotzdem waren sich alle irgendwie einig, dass die Zeit der Agonie vorbei sei.

Ein Mann mit knallbuntem Hemd und dunklen Augenrändern erklärte mir, hier eigentlich Hausverbot zu haben, da er mal versucht habe, einen Sozialarbeiter auseinander zu nehmen.

Nach der zweiten Hochrechnung leerte sich das Bezirksamt etwas. Zuvor war noch ein hoher SPD-Funktionär gekommen, um der Bürgermeisterin zu erklären, dass es ihr wenig nützen würde, mit ihrer Partei die meisten Stimmen abgeräumt zu haben. Ihre Tage als Bürgermeisterin seien trotzdem arg begrenzt, bekundete der Genosse, man habe sich bereits im Vorfeld der Wahlen eine Zählgemeinschaft gesichert, um ihre Wiederwahl zu verhindern. Damit verließ der kleine Mann zufrieden die Veranstaltung, froh, an diesem Abend noch eine gute Tat vollbracht zu haben. Er ging kerzengerade und sein dunkler Anzug verlieh dem Etablissement ungewohnten Glanz. Wer Platz hatte, trat einen Schritt zurück, um den Anzug vorbeizulassen. Unten wartete bereits das Auto. Der Genosse hatte noch viel zu tun.

Die Bürgermeisterin rüstete zum Aufbruch. Sie musste noch an verschiedene Orte. Wir wollten ihr nachreisen und uns in benachbarten Kneipen die Zeit vertreiben, bis die Bürgermeisterin mit ihren Interviews, Vorstellungsrunden und Gesprächen fertig sein würde. Die einzige Kneipe in der Nähe des Wahlquartiers war das Albert´s, das sich beim Betreten als schlimme Heimsuchung herausstellte. Schlimmer noch als eine Ampelkoalition mit einem Senator, der Mister Wirtschaft heißt. Daran konnte auch die Apostrophierung des Vergnügungstempels nichts ändern. Früher - und ein bisschen auch noch heute - galt das Albert´s als bevorzugter Ort für Zuhälter. Das liegt an den tätowierten Jungs mit den Kurzhaarfrisuren und goldenen Ketten, die ihre tief gelegten Autos mit den Ludenschürzen vor der Kneipe abstellen, Cocktails trinken und aufmerksame Blicke in die Runde werfen, vor allem dahin, wo drei oder vier Mädels allein um einen Tisch rumstehen. Alle sind immer voller Hoffnung und Hochrechnungen spielten an diesem Abend nur eine untergeordnete Rolle. Hier ging es um andere Dinge und gründeten sich andere Koalitionen. Einstein, dessen apostrophierter Vorname der Kneipe zu ihrem Namen verholfen hatte, klebte an der rechten hohen Wand über einer Orgel aus Pappmaché und zeigte der Welt die Zunge. Die Jungs mit den schnellen, tief gelegten Autos wussten sicher eine Menge über den Zusammenhang von Masse und Geschwindigkeit. Insofern hatte das alles seine Berechtigung.

Gegen elf gingen wir nachsehen, was die Bürgermeisterin so treibt und wechselten von Cocktails zu Bier und von Techno zu Janis Joplin. Es regnete in Strömen und nach einer kurzen Talkrunde, die ob der fröhlichen Lautstärke im Saal schreiend absolviert werden musste, begannen die ersten zu tanzen. Andere standen erschöpft oder leicht betrunken am Rande des Geschehens. Ich hielt das Bierglas der Bürgermeisterin und schaute zu, wie die Siegerinnen und Sieger sich zu Salsaklängen bewegten. Es gab in diesem Moment nicht mehr viel zu sagen. Der Wechsel war erst für den kommenden Tag angekündigt. Wer die Nacht überstehen würde, hatte eine Zukunft. Zweifel waren angebracht.

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