Tagelang hatte es wie aus Eimern gegossen, doch der 1. Mai 1986 war ein strahlender Frühlingstag. Fünf Tage zuvor war der Reaktor des sowjetischen Atomkraftwerks Tschernobyl explodiert. Als ich beim Mai-Ausflug an den Löwenzahnwiesen meiner Heimat entlangradelte, machten mir die dampfenden Kühltürme am Horizont also noch mehr Angst als sonst. Allerdings wusste da noch niemand, dass die Regenwolken den GAU auch vor unsere Haustür getragen und radioaktives Material hier verteilt hatten. Kurz darauf entsorgten wir das neu sprießende Gemüse aus unserem Garten, aßen aus Dosen und der Tiefkühltruhe, schluckten Jodtabletten und blieben, so weit das möglich war, im Haus. Für mich ist also der 15. April, an dem die letzten drei Atomkraftwe
twerke in Deutschland für immer abgeschaltet werden, ein Feiertag. Er sollte es für uns alle sein. Schließlich handelt es sich um die gefährlichste, teuerste und, bezieht man die verheerenden Folgen des Uranabbaus mit ein, umweltschädlichste Form der Energiegewinnung.Dabei sah es kurz so aus, als würde dieser Wahnsinn eine Renaissance erfahren: Während der Energiekrise nach dem russischen Angriff auf die Ukraine forderten Liberale, Konservative und Rechte eine Laufzeitverlängerung, ja sogar den Bau neuer Atomkraftwerke. Tatsächlich ließ sich die Ampel zu einer Änderung des Atomgesetzes hinreißen und genehmigte den so überflüssigen wie riskanten Streckbetrieb der AKW Neckarwestheim 2, Isar 2 und Emsland. Obwohl die alle zehn Jahre vorgeschriebene Sicherheitsprüfung dieser Reaktoren schon 13 Jahre zurücklag und seit drei Jahren überfällig war. Obwohl es allein in diesen drei Meilern zusammen mehr als 400 meldepflichtige Ereignisse gab. Und obwohl die Atomkraft 2022 nur noch knapp sieben Prozent zur Nettostromproduktion beitrug und der Weiterbetrieb der Anlagen kaum zusätzliche Energie lieferte. Wieder einmal siegte die Ideologie über Fakten.Denn eine Ideologie war die Atomkraft von Anfang an: ein Nebenprodukt der Entwicklung von Atomwaffen und Aufrüstung. Für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung analysierte Claudia Kemfert alle 674 seit 1951 gebauten AKW. Von Beginn an hätte diese Energie keine Chance auf ökonomische Wettbewerbsfähigkeit gehabt, die Kosten dieser Energieproduktion stiegen kontinuierlich und waren von jeher von staatlichen Subventionen abhängig.Investitionen in ein neues Kraftwerk mit einer Leistung von 1.000 Megawatt führten durchschnittlich zu Verlusten von knapp fünf Milliarden Euro. Das finnische AKW Olkiluoto 3 etwa hätte in vier Jahren gebaut werden und drei Milliarden Euro kosten sollen, daraus wurden 18 Jahre und knapp zehn Milliarden Euro. Am Netz ist es noch immer nicht. Die Kosten und Risiken der Atomkraft trägt die Allgemeinheit. Dazu gehört wesentlich, dass es auf der ganzen Welt noch kein einziges sicheres Endlager für den Atommüll gibt, der mehrere hundert Jahre weiterstrahlen wird.Schub für die EnergiewendeUmso verrückter ist es, dass es den Propagandisten der Atomkraft sogar fast gelungen ist, diese im Zuge der Energiekrise wieder salonfähig zu machen. Das Framing von Atomstrom als „klimaneutral“ hat in einer Zeit, in der selbst Autobahnen für den vermeintlichen Klimaschutz gebaut werden, erschreckend gut verfangen. Das Narrativ der „falschen Ausstiegsreihenfolge“ schob der Anti-AKW-Bewegung gar die Schuld an der Klimakrise in die Schuhe, sie habe ja dafür gesorgt, dass weiter Kohle verbrannt wird. Als wäre die Anti-AKW-Bewegung nicht längst in der Anti-Kohle-Bewegung aufgegangen.Ventiliert wird solcher Unsinn stets von denen, die sowohl die Energiewende als auch den Atom- und den Kohleausstieg immer blockiert haben. Das Gegenteil ist richtig: Der Atomausstieg hat Klimaschutz erst möglich gemacht. Er war es, der der Energiewende und der Entwicklung erneuerbarer Energie einen globalen Schub gab: Fast die Hälfte des in Deutschland verbrauchten Stroms stammt heute aus erneuerbarer Energie. Weltweit ist der Anteil der Stromversorgung aus Solar- und Windkraft auf über zehn Prozent gestiegen.Laut dem World Nuclear Industry Status Report sank der Anteil der Atomkraft an der kommerziellen Stromerzeugung weltweit mit 9,8 Prozent auf den niedrigsten Stand seit 40 Jahren – obwohl sechs neue Meiler ans Netz gingen. Atomstrom hingegen verstopft die Netze. Gerade das AKW Emsland, das im Streckbetrieb mit am längsten lief, war an so vielen Tagen am Netz, dass die Windkraft dafür abgeschaltet werden musste. Und in Frankreich zwang die Klimakrise die Atomkraft in die Knie: Die ausgetrockneten Flüsse konnten kein Kühlwasser bereitstellen, so dass die Meiler mit hohem Energieaufwand gekühlt werden mussten, unter anderem – welch Ironie – mit importiertem Windstrom aus Deutschland. Die Atomenergie hat keine Zukunft. Das allein ist ein Grund zum Feiern.Aber da gibt es noch mehr: Der Ausstieg kam nie von oben (nein, auch nicht von den Grünen), sondern wurde von unten hart erkämpft. Er ist eine zivilgesellschaftliche Errungenschaft, die Vernunft gegen Ideologie und harte Widerstände durchgesetzt hat. Daran müssen wir anknüpfen. Denn es gibt noch viel zu tun.