Das nennt man wohl Realpolitik

Anpassung Mit ihrem Versprechen vom "Mut zur Veränderung" erleben die Grünen einen Höhenflug. Die ökologisch-soziale Transformation gehen jedoch auch sie äußerst zaghaft an
Ausgabe 46/2018
Mit dem Mythos der Unangepasstheit umgibt man sich bei den Grünen noch immer gerne
Mit dem Mythos der Unangepasstheit umgibt man sich bei den Grünen noch immer gerne

Foto: Jens Schlueter/Getty Images

Jüngst hat Friedrich Merz, der den CDU-Vorsitz übernehmen will, die Grünen als „sehr bürgerlich, sehr offen, sehr liberal und sicherlich auch partnerfähig“ gelobt. Das war vielen Medien eine Meldung wert: Der Aufsichtsratschef des Konzerns Blackrock, womöglich in Cum-Ex-Geschäfte verwickelt, findet die Grünen gut. Ausgerechnet!

Doch so abwegig ist das gar nicht. Schließlich hat die rot-grüne Bundesregierung die Liberalisierung der Finanzmärkte in die Wege geleitet, Privatisierungen beschleunigt, die Agenda 2010 gezimmert und eine Politik für Reiche zementiert. Die Kompromissbereitschaft bis zur Selbstaufgabe wird den Grünen um die Ohren gehauen, seit sie sich von der Friedens- zur Kriegspartei wandelten. Trotzdem ist es ihnen gelungen, den Mythos der „Anti-Partei“ zu konservieren, die für einen Politikwechsel steht: Die Wahlerfolge in Bayern und Hessen verdanken die Grünen nebst frischem Personal an der Spitze auch dem Umstand, dass die Wähler SPD und Union abstraften, den Grünen dagegen zutrauen, was diese selbst als „Mut zur Veränderung“ preisen. Darf man im Angesicht ihres Höhenflugs also endlich auf eine radikale ökologisch-soziale Transformation hoffen?

Die Vorschläge sind zaghaft, selbst zur Klimapolitik: Die Grünen wollen den katastrophal gescheiterten Emissionshandel reformieren, CO₂ einen Mindestpreis geben, Heizöl und Erdgas höher und Kerosin überhaupt besteuern, ebenso Einwegplastik, bis zu einem Verbot 2030. Dann soll es auch nur noch „emissionsfreie“ Autos zu kaufen geben, um Klima wie Autoindustrie zu retten. Vor der Bundestagswahl war noch vom Ende des Verbrennungsmotors die Rede. Sind radikale Forderungen – autofreie Innenstädte, ein Verbot von SUVs und Inlandsflügen – der Gutverdiener- Klientel etwa nicht zuzumuten? Die meisten Vielflieger wählen grün, vom Image der „Verbotspartei“ (Veggieday!) hat sich diese lange nicht erholt.

In Hessen jedenfalls konnten die Grünen weder den Ausbau des Flughafens stoppen noch das Nachtflugverbot ausweiten oder Lärmobergrenzen flächendeckend durchsetzen. Während die bayrischen Grünen gegen das Polizeiaufgabengesetz Wahlkampf machten, beschloss Schwarz-Grün in Hessen, Staatstrojaner einsetzen zu können. Im grün-schwarz regierten Baden-Württemberg wird Stuttgart 21 gebaut, obwohl erst der Protest dagegen die Partei nach oben katapultierte. Am besonders luftverschmutzten Daimler-Standort Stuttgart musste ein Gericht Fahrverbote gegen Stadt und Land durchsetzen. Das Land, das den einzigen grünen Ministerpräsidenten stellt, hat im August Geflüchtete nach Afghanistan abgeschoben und der Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsländer zugestimmt, obwohl das die Bundesgrünen ablehnen. Doch wer weiß, wie lange noch: Die Union setzt sie unter Druck. Das Land, dessen Ministerpräsident Kretschmann am liebsten „Männerhorden“ gewaltbereiter Flüchtlinge „in die Pampa“ schicken würde, stand mit fast 3.500 Abschiebungen 2017 nach Nordrhein-Westfalen auf Platz zwei in Deutschland.

Das nennt man wohl Realpolitik, die Anpassung an den Status quo. So werden die Grünen „partnerfähig“ (Merz) und für konservative Wähler attraktiv. Nicht trotz, sondern wegen der Widersprüche: Sie versprechen, alles zu ändern, damit alles bleiben kann, wie es ist.

Kathrin Hartmann veröffentlichte zuletzt Die grüne Lüge. Weltrettung als profitables Geschäftsmodell

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