Murmeltier-Politics

Klimawandel Im selben Maße, wie die Bedrohung wächst, setzt die Politik stur auf ein „Weiter so“
Ausgabe 47/2020
„Ökologische Trauer“ nennt man das Gefühl von Verlust, Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit angesichts der Zerstörung des Planeten
„Ökologische Trauer“ nennt man das Gefühl von Verlust, Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit angesichts der Zerstörung des Planeten

Foto: Rafael Bastante/Sopa Images/Lightrocket/Getty Images

Vor Kurzem habe ich mich mit einer „Fridays for Future“-Aktivistin unterhalten. Sie erzählte mir, wie erschreckend sie es finde, dass sie viele Klimawissenschaftler*innen kenne, die ihren Beruf aufgeben wollten: „Die schaffen das einfach nicht mehr“, sagte sie, weil sie darum wüssten, wie dramatisch und immer schlimmer die Folgen des Klimawandels werden. „Deshalb wollen sie lieber noch Zeit mit ihren Familien verbringen.“ Es gibt in der Psychologie sogar einen Begriff für dieses Gefühl von Verlust, Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit angesichts der Klimakatastrophe und der Zerstörung des Planeten: „ökologische Trauer“. Zu der trägt hierzulande nicht unwesentlich die Bundesregierung bei, die sich beharrlich weigert, eine Klimapolitik zu betreiben, die diesen Namen verdient.

Mitte Oktober legte „Fridays for Future“ eine Machbarkeitsstudie zum 1,5-Grad-Ziel vor. Darin untersucht das renommierte Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, wie ein gerechter klimapolitischer Beitrag Deutschlands dazu aussehen könnte. Das wenig überraschende Ergebnis: Die Klimaziele der aktuellen Bundesregierung würden zu einem mehr als doppelt so hohen CO₂-Ausstoß führen wie ein 1,5-Grad-Pfad. Das 1,5-Grad-Ziel könne aber noch eingehalten werden. Aber nur dann, wenn Deutschland schon bis 2035 CO₂-neutral sei, nicht erst, wie vorgesehen, 2050 oder gar später. Dies würde drastische und konsequente Maßnahmen erfordern, etwa im Verkehr: Unter anderem müsste der Autoverkehr halbiert und der ÖPNV verdoppelt werden, ein Drittel der Lkw-Transporte auf die Schiene verlagert, der Flugverkehr stark reduziert und der überflüssige innerdeutsche komplett beendet werden. Außerdem sollen umweltschädliche Subventionen abgeschafft werden (mehr dazu auf S. 31).

Es ist, als hätte sich die Bundesregierung und insbesondere Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) diese Studie vorgenommen, um exakt das Gegenteil dessen zu tun, was darin empfohlen wird. Überhaupt: Je näher die klimatischen Einschläge rücken und je weniger Zeit dafür bleibt, das Ruder herumzureißen, desto heftiger scheinen sie den Status quo zementieren zu wollen. Der gerade – mitten in der Corona- und Klimakrise – eröffnete Flughafen Berlin Brandenburg ist dafür ein sinnfälliges Symbol. Im Sommer rettete die Regierung die Lufthansa mit neun Milliarden Euro und einer Teilverstaatlichung – ohne Klima-Auflagen. Dabei verschlingt die deutsche Luftfahrt auch ohne Corona-Krise seit Jahr und Tag horrende Subventionen: 11,8 Milliarden Euro waren es allein im Jahr 2016. Ohne Staatshilfen der Länder und der ohnehin klammen Kommunen wären Regionalflughäfen und Billigflieger gar nicht überlebensfähig. Laut einer Studie des BUND würden zwölf von 14 Regionalflughäfen ohne Subventionen rote Zahlen schreiben. Zwischen 2014 und 2018 haben diese 200 Millionen Euro an Steuern verschlungen. Nun will Scheuer ausgerechnet solche überflüssigen „Landratspisten“ retten: beim Luftfahrtgipfel Anfang November setzte sich der Verkehrsminister dafür ein, dass diese ein Rettungspaket von einer Milliarde Euro erhalten.

463 Prozent mehr SUVs

Während für den öffentlichen Nahverkehr nur zusätzliche 2,5 Milliarden Euro zur Verfügung stehen, darf die Autoindustrie über einen weiter steigenden Absatz von SUVs jubeln: Dank der wegen Corona erhöhten Kaufprämie für Elektroautos stieg der Absatz von Hybridfahrzeugen in diesem Segment im September im Vergleich zum Vormonat um 463 Prozent. Hybride jedoch sind eine Klima-Mogelpackung: Viele dieser Fahrzeuge, die einen Verbrennungsmotor und eine Batterie haben, fahren die meiste Zeit im fossilen Modus.

Damit diese und andere Autos die Straße wieder für sich haben, schafft die SUV-Hauptstadt München sogar die Pop-up-Radwege wieder ab. Und Familienministerin Franziska Giffey (SPD) ließ sich zu der Behauptung hinreißen, die Vorstellung autofreier Innenstädte sei „weltfremd“ – obwohl europäische Großstädte wie Brüssel, Paris, London, Mailand und Kopenhagen längst vormachen, dass das geht. Apropos Europa: In Brüssel hat das EU-Parlament gerade einem „Weiter so“ in der Agrarpolitik zugestimmt und gibt damit für weitere sieben Jahre den Arten- und Klimaschutz verloren.

Die ignorante Politik des wiederkehrenden Immergleichen kann einen wirklich zur Verzweiflung bringen. Dazu gehört das einzige Argument, mit dem diese stets gerechtfertigt wird: Arbeitsplätze. Aber das war schon immer falsch. Denn genau die drohen etwa im Daimler-Werk Berlin-Marienfelde verloren zu gehen: Das Werk, das den V6-Diesel herstellt, soll geschlossen werden. Denn anstatt das Werk für die Zukunft umzugestalten, verabschiedet sich Vorstand René Reif lieber zu Tesla. Dagegen protestieren die 1.200 Beschäftigten gemeinsam mit der IG Metall. Sie gehen allerdings nicht dafür auf die Straße, dass alles so bleiben kann, wie es ist – sondern für einen klimagerechten Umbau ihres Werks und ihrer Arbeit. Eine ökologische und soziale Transformation kommt immer von unten, nie von oben. Das Einzige also, was die Murmeltier-Politik beenden und die Verzweiflung lindern kann, ist: Solidarität. Die wurde zu Beginn der Corona-Krise hochgehalten – jetzt ist es höchste Zeit, sie wieder zu beleben, um weitere fundamentale Krisen abzuwenden.

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