Die Demografie ist der Quellcode des Staatsprogramms. Sie wird mehr oder weniger begriffen, je nachdem, von wo aus draufgeschaut wird. Ich nehme an, Frau von der Leyens Position erlaubt ihr, eine Ahnung davon zu haben. Das zeigt ihr Elterngeld, und das zeigt ihr Bemühen, Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren zu schaffen. Zwar denkt niemand daran, Müttern oder Vätern ein ganzes Jahr Kinderzeit bei vollem Lohnausgleich, ab dem dritten Kind sogar anderthalb Jahre, zu gewähren, aber auf den ersten Blick mutet von der Leyens Draufgängerei in der Tat an wie ein Wiederbelebungsversuch des DDR-Geburtenbooms. Es war doch nicht alles schlecht!, triumphieren die einen. Die anderen schauen entgeistert auf die Ministerin wie auf einen frisch geschlüpften Kuckuck, der ihnen von irgendeinem fremden Vogel ins Parteinest gelegt worden sein muss.
Aus den eigenen Reihen hatten die wenigsten solch einen vermeintlichen Angriff auf das konservative Familienverständnis erwartet. Dabei gibt sich Frau von der Leyen solche Mühe, mit dem Begriff der Wahlfreiheit für Toleranz zu werben! Nur wer die Wahl habe, könne sich für eine frühe Fremdunterbringung von Kindern entscheiden. Oder aber dagegen, was niemandem zum Nachteil gereichen dürfe. Wahlfreiheit mit Toleranzgarantie. Im Osten Deutschlands jedoch, wo Rudimente des einst flächendeckenden Krippennetzes noch existieren, können Männer und Frauen keinesfalls ihre Kinder nach Wahl abgeben oder zu Hause behalten. Wer von den jungen Müttern oder Vätern im Osten kann schon wählen, ob er oder sie arbeiten gehen will? Die meisten wollen, aber ein Job ist nicht in Sicht. Ohne Job aber geht die Unterbringung des Kindes flöten. So wird weder der linke noch der rechte Schuh daraus. Barfuß stehen die Eltern vor der Krippe im Regen.
Vor allem Unterschichteltern drängeln dort. Die aus der Oberschicht werden ihre Kinder nämlich kaum in die Krippe schicken, und die Mittelschicht schafft sich zahlenmäßig ab. Wer sehen will, sieht es: Die Unterschicht setzt zur eigenen Gaudi, zur eigenen Absicherung und zu Lasten des Landes nach wie vor Kinder in die Welt. Das ist unzulässig verallgemeinert? Mag sein, aber RTLs Supernanny Katharina Saalfrank kann trotzdem ihr gut bezahltes Lied davon trällern. Frau von der Leyens Kinderkrippe muss man so zum einen als händeringendes Angebot an die Mittelschicht verstehen, dafür zu sorgen, dass sie sich selbst reproduziert. Ob das klappt, steht keinesfalls fest. In Bayern und Rheinland-Pfalz, zwei Ländern, die an Kinderbetreuung unter drei Jahren verschwindend wenig zu bieten haben, ist die Geburtenrate am höchsten in der Bundesrepublik. Kinder erscheinen so als anhängige Variable ökonomischer Absicherung, die dort eher zu haben ist als in Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern, wo ein (zugegeben löchriges) Krippennetz noch existiert.
Zum anderen aber, und das muss deutlich genug ausgesprochen werden, ist frühe Betreuung eine Chance für vergessene Stütze-, Hartz-IV- und Migranten-Kinder. In einer Zeit, in der es darauf ankommt, die Staatsfinanzen zu ordnen, durch Deregulierung, Outsourcing und wie die schönen Dinge alle heißen, ist der Staat nämlich bei den Jugendhilfestrukturen ins Hintertreffen geraten. Unbeweglich an der einen, vorpreschend an der anderen Stelle, ringen Jugendamtsmitarbeiter heutzutage darum, ihre eigenen Positionen nicht zu gefährden. Das lähmt nicht nur im Kopf, es führt zum Dauertaumel. Der Staat scheint an diesem wichtigen Punkt in Schreckstarre zu verharren. Wer aber als der Staat soll sich ums abgehängte Prekariat kümmern? Das Kapital hat nichts vorgesehen dafür. Es ist jedoch dabei, seine Verwertungsinteressen von Humankapital heute und in einer Generation einzuschätzen. Womöglich geht ihm auf, dass es nicht nur beim Ausstoß von Kohlendioxid, sondern auch bei der Ausschöpfung von Humanvermögen dabei ist, Grenzen zu übertreten.
Das wäre nicht schlecht für den Staat, der Geld braucht für seine Krippenideen. Die Vielzahl verkommender Kinder trifft ihn an einem empfindlichen Punkt, den er gern verschleiert mit der niedrigen Geburtenrate: Er scheitert daran, den Kindern, die da sind, ausnahmslos gleiche Chancen zu verschaffen. Eine Krippe, die schon im frühen Kindesalter der Ideenarmut der überforderten Eltern vorbeugte, wäre da eine Wohltat. Aber stünde sie den Kindern offen, die sie nötig hätten? Da müsste sie nichts, höchstens wenig kosten und unabhängig vom Vorhandensein eines Arbeitsplatzes angeboten werden. Das ist nicht vorgesehen. Also: Auch so wird nichts aus der Wahlfreiheit.
Wie viel Staat will sich die derzeitige Zivilgesellschaft der BRD gegenüber der Familie überhaupt leisten? Darüber streiten zum Beispiel die Kirchen, die das ja eigentlich nichts angeht. Ihren eigenen Platz in der Zivilgesellschaft wollen sie aber auf keinen Fall gefährden. Während die evangelische Kirche hie und da schon Kinderbetreuung für unter Dreijährige anbietet und mit der Zeit geht, die dennoch nicht für sie arbeitet, stemmt die katholische sich dagegen an, als könne sie sie aufhalten. Durchs vor allem christlich-soziale Hintertürchen geschlüpft, steht sie plötzlich mittendrin in der Schlammschlacht: Sie sieht Frauen durch den vermuteten staatlichen Druck auf eine frühe Krippenunterbringung der Kinder zu jenen Gebärmaschinen degradiert, die sie selber eben noch aus ihnen zu machen gedachte mit dem Verbot jeglicher Abtreibung. Das nenne ich scheinheilig. Frau von der Leyen hält sich wohltuend und erstaunlich klug zurück und tut nichts, auf derlei blödsinnige Angriffe zu reagieren. Sie hält Kurs und schafft es, die Attacken ins Leere laufen zu lassen: Immer ist sie schon ein Stückchen weiter, als ihre blinden Gegner sie wähnen. Die Scheinheiligkeit trifft nicht.
Aber auch die Regierungsparteien liegen miteinander im Clinch, und zwar nicht nur, was die Finanzierung des Betreuungsprogramms angeht. In der Union geht der Streit sogar mitten durch die Partei: Die auf ein konservatives Verständnis von Familie pochen, laufen Sturm gegen Frau von der Leyens Pläne. Dass sie selbst aber durchaus einem konservativen Familienbild anhängt, bewies sie vor allem mit der Durchsetzung des Elterngeldes. Es bevorzugt konsequent den gewachsenen Mittelstand. Was liegt also näher, als auch ihre Betreuungspläne in erster Linie für eine konservative Mittelstandspolitik zu halten? Gut gewählt, kann ich da dem konservativen Lager nur gratulieren. Es lebe die Wahlfreiheit.
Apropos Scheinheiligkeit: Die DDR-Krippe war ein Ausbund derselben. Auf dem Boden einer scheinheilen, weil unproduktiven Vollbeschäftigung war eine ebenso scheinheile, weil instrumentalisierte Gleichberechtigung gewachsen, als deren vormundschaftliche Verwaltung die DDR Kinderbetreuung organisiert hatte.
Dennoch war die scheinheile Vollbeschäftigung für Frauen eben auch ein Medium, sich in ökonomischer Selbstständigkeit zu üben und sie schließlich für sich selbst einfach in Anspruch zu nehmen. Das Niveau war bescheiden. Wir waren es auch. Nehmen wir mich: Zunächst allein mit zwei kleinen Töchtern, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, einen Mann zu etwas anderem als zu Lust und Laune zu brauchen. Ich liebte diese Art der Wahlfreiheit. Es fand sich schließlich einer. Wir sind nun zweiundzwanzig Jahre verheiratet und haben es zusammen auf drei Söhne gebracht. Ohne Krippenbetreuung hätten Lust und Laune, ich sage es ehrlich, mir nicht für fünf Kinder gereicht. So selbstverständlich war es mir zu arbeiten, dass mein Mann 1989 mit dem zweiten Sohn ein Jahr lang zu Hause blieb, nachdem ich die ersten sechs Monate stillend mit ihm verbracht hatte. Dann war Krippe angesagt. Wir hatten Glück: Unsere Kinder mochten die Tanten im Allgemeinen. Mochten sie eine nicht, nahmen wir das als gegeben und versuchten, auf respektvolle Behandlung der lieben Kleinen zu achten. Dass sich alle Menschen mögen müssen, war schon damals nicht in unserem Programm vorgesehen. Und im Umgang mit Gleichaltrigen lernten die Kinder nebenbei, was wir ihnen mit stoischer Gelassenheit hätten häuslich beibringen müssen: Hände waschen, Zähne putzen, sich anziehen. Wir hatten kein ungutes Gefühl, nachdem wir die Erzieherinnen jeweils einer kritischen Betrachtung unterzogen hatten. Das, was sie gelernt hatten, hatten sie gelernt, und das wandten sie an. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Mit Schönreden hat das nichts zu tun, denke ich. Es war eine Orientierung am Gegebenen.
Mörder sind aus den Kindern nicht geworden. Bislang sind aus meiner Familie eine Violinistin, eine Soziologiestudentin mit Spezialgebiet Familiensoziologie und ein Zimmermannsgeselle mit sehr gutem Berufsabschluss hervorgegangen. Zwei gehen noch zur Schule. Die Mädchen sind ihrerseits bereits wieder Mütter. Die Studentin ist heilfroh, dass es in Bremen, ihrem Studienort, eine Studentenkrippe gibt. Die Geigerin aber ist zu allem Unglück auch noch verheiratet und hatte hierzulande keinerlei Aussicht auf einen Krippenplatz für ihre Tochter. Die Wahlfreiheit bestand in ihrem Fall darin, Deutschland zu verlassen. Seit Januar lebt sie in Norwegen. Ihr Mann fand dort Arbeit. Ihr Kind geht in die Krippe. Zur Zeit tourt sie mit dem Berliner Kammerorchester durch Spanien.
Kathrin Schmidt, geboren 1958 in Gotha, lebt als Schriftstellerin in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Zuletzt erschien von ihr 2005 der Roman Seebachs schwarze Katzen.
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