In Marathi erschienen unter dem Titel Chaturang vier Erzählungen, die - auf dem Umweg über das Englische - im Jahre 2002 als Bombay Quartett ihren Pfad ins Deutsche fanden. Die indo-arische Sprache Marathi spricht man bevorzugt in Maharashtra, im Norden des indischen Subkontinents, wo der Autor Chilip Ditre von Geburt an zu Hause ist. Geboren 1938 in Baroda, hat er lange Jahre in Mumbai (Bombay) verbracht, bevor er mit seiner Familie nach Pune (Poona) zog. Einen Namen machte er sich als Lyriker, Übersetzer, Filmemacher und Maler - ein Allroundkünstler also, dessen Welterfahrenheit durch viele Reisen nach Afrika, Amerika und Europa belegt wird. Im Frühjahr 2002 weilte er zur 13. Internationalen Buchwoche, die sich Indien zum Thema auserkoren hatte, in München.
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in München.Die hier zu verhandelnden vier Geschichten wurden erstmals 1995 publiziert. Es sind ausfransende, nicht-lineare Stories mit wechselnden Erzählerperspektiven, psychedelischen Einsprengseln oder essayistischen Auslassungen über die Sinnsuche im alltäglichen Dasein, die der Autor als Fragenkatalog hinterlässt. Saphir zum Beispiel erzählt die Faszination durch einen Stein als Obsession, der sich der Erzähler nicht entziehen kann. Ein Saphir wird zum Glücks- oder Unglücksbringer, und der Erzähler unterzieht sich dem Testlauf, wie der Stein wohl bei ihm wirken möge. Einem einzigen unter einer Million Menschen bringt er Segen, während neunundneunzig von hundert wie mit einem Fluch geschlagen werden. Bleiben also 10.000 von der Million, denen er nichts anhaben kann, weder im Guten wie im Schlechten, während 990.000 dem Verderben anheimfallen - ob sich Chilip Ditre das gut überlegt hat? Dazwischen gibt es religiös-mythologische Ausflüge über das Okkulte, die Kabbala, das Edelsteinwesen im Allgemeinen und im Besonderen. Wiederum dazwischen Mitteilungen über den Lebenslauf des Erzählers, der, saphirbeladen, am Ende dazu kommen will, den Stein zu vernichten - aber warum? So schlecht ist es nicht gelaufen, es gab eine "Beförderung im Büro, ein(en) Jackpot beim Pferderennen, eine brünstige Frau wie Claudia ... eine neue Wohnung und ein(en) Wagen mit Chauffeur auf Kosten der Firma; Partys und Dinners alle Tage." Dass Frau und Sohn zunehmendem Schweigen verfallen, wird als Auslöser der Vernichtungsaktion nicht recht glaubhaft gemacht, und als der Erzähler am Ende gar noch eine junge Frau vor dem Selbstmord rettet, als er am Strand sitzt und auf die innere Kraft wartet, den Stein ins Wasser zu werfen, ist man mit seinem Latein ein wenig ans Ende geraten - was, um Gottes willen, will uns der Dichter damit sagen?Vom hastigen, atemlosen Bombay bleibt in der Saphir-Geschichte nicht die Spur, und auch Vollmond im Winter könnte überall handeln: Eine über 50 Jahre alte Frau, der männliche Mitschüler einst eben diesen Namen gaben, der Schönheit bei vermuteter Frigidität wegen, trifft zwei von jenen Mitschülern wieder und befragt sie über das Warum, trinkt viel, ein dritter Mann kommt hinzu, sie macht Anstalten, mit dem einen oder anderen ins Bett zu gehen und stürzt sich schließlich aus dem Fenster. Die ist die gelungenste, klarste, bei aller Komödienhaftigkeit doch bitter ernste Geschichte, die sich nicht in Erklärungen verliert, sondern den Leser im Ahnungsraunen belässt über mögliche Zusammenhänge. Rudhiraksha hingegen erweist sich als nicht auflösbares Rätsel: Ein rot- oder blutäugiger Mann - ein Albino? - arbeitet als Müll- und Abwasserbeseitiger, ist selbst kastenloser Müll in der indischen Gesellschaft, aber plötzlich sitzt er in der Direktion der Celestial Drainpipe Company. Bekommt Besuch von Journalisten, die seinen Arbeitsalltag abbilden wollen. Er hat Anfälle von Blindheit, die nur wenige Minuten dauern und ihn in psychische Ausnahmesituationen bringen. Aber was das alles mit dem Erzähler zu tun hat, der einmal Rudhiraksha selbst ist und ein andermal ein Ich, dessen Ausbildung ihn als Redakteur einer Zeitung ausweist, das bleibt doch rätselhaft, und nichts Leichtes, sondern die Sprödigkeit versuchter Bedeutungsschwangerschaft steht über dem Text.Schließlich ist da noch Abrahams Notizbuch, das ein Marathi sprechender Jude dem Ich-Erzähler gegeben hat, und hier scheint ein autobiografischer Bezug deutlich zu werden: Im multi-ethnischen und multi-religiösen Bombay kommt ein Schriftsteller, in Trance, im Traum, mit Vertretern verschiedener Bevölkerungsgruppen und Religionen zusammen. Der jüdische Freund von einst bohrt sich in sein Hirn und lässt ihn Szenen aus der Position des top-angle erleben. Und hier werden nun Figuren, die der Autor einst erfand oder zu erfinden glaubte, in die Wirklichkeit gezogen und kehren wieder in die Autonomie der Fiktion zurück. Es ist ein Kollege, Namdeo Dhasal, ein Führer der Dalit Panthers, der den Autor aus seiner erlebten Wehrlosigkeit gegenüber den Übergriffen der Figuren retten soll. (Mit Namdeo Dhasal gab Chitre gemeinsam den Band Bombay - Mumbai heraus, einen Foto-Bildband mit Gedichten von Dhasal und sich selbst.) Alles in allem ist diese Erzählung wohl eine Hommage des Dichters an seinen alten jüdischen Freund und dessen wegweisenden Akt der Übergabe seines alten Notizbuches.Mag sein, dass in diesem Buch dem Umweg über das Englische vieles zum Opfer fällt, was den Reiz solcher Geschichten ausmachen könnte. Ein Glossar am Ende des Buches erklärt indische Ausdrücke, die nicht übersetzt, sondern beibehalten wurden. Aber was Dilip Chitre erzählt, mutet dennoch häufig wie Fremdenverkehrsprosa an, in der alles mit allem gemischt wurde zur Illustration der Weltläufigkeit des Autors.Dilip Chitre: Bombay Quartett. Stories. A1 Verlag, München 2002, 224 S., 19,90 EUR
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