Wohnzimmer-Lektionen

Volksbildung Wie kann man politisches Bewusstsein wecken? Warum engagieren wir uns politisch? Der französische Unternehmensberater Pierre Kaskys gibt dazu Workshops
Da marschierte er noch bei Occupy mit: Pierre Kasky bei einer Demonstration, vergangenen Oktober in Berlin
Da marschierte er noch bei Occupy mit: Pierre Kasky bei einer Demonstration, vergangenen Oktober in Berlin

Foto: Anna-Kristina Bauer

Die Polstermöbel in dem hellen Zimmer sehen aus, als kämen sie vom Sperrmüll. Es ist eine typische Berliner Altbauwohnung mit Stuck an der Decke, sechs Leute unterschiedlichen Alters und verschiedener Nationalität sitzen in Sesseln um einen flachen Tisch und schreiben. „Wer möchte beginnen?“, fragt dann der Moderator.

„Petite histoire, grande histoire“ (kleine Geschichte, große Geschichte) heißt der Workshop, zu dem Pierre Kastner-Kysilenko über verschiedene Facebookgruppen in seine Wohnung eingeladen hat. Er notiert auf einer Papierbanderole an der Wand Jahreszahlen und „die kleinen Geschichten“ der Teilnehmer. Sie handeln vom ersten Golf- und vom Zweiten Weltkrieg, von der Angst vor Krieg am 11. September 2001, von erlebten Rassismus und Armut, einer Ehescheidung und der Suche nach der eigenen Identität. Kastner-Kysilenko, kurzes dunkles Haar, das Kinn leicht vorgestreckt, schreibt alles auf, von 1958 bis 2001. Ein halbes Jahrhundert.

Die Macht der Worte

Dass er wie aus der Zeit gefallen wirkt, mag von den guten Manieren herrühren, die in seiner Berliner WG nostalgisch wirken. Sein Oberlippenbart erinnert an Peter Sellers in den siebziger-Jahre-Filmen. Kastner-Kysilenko, der seinen elsässisch-ukrainischen Namen auf Kaskys verkürzt, spricht Französisch, Englisch, Deutsch und ein bisschen Russisch. Er redet schnell und ist geübt im Umgang mit Medien. Und er wirkt getrieben von der Angst, etwas zu verpassen. Er war unter den ersten, die im vergangenen Oktober, als sich vor dem Reichstag spontan eine Assamblea – eine Versammlung nach dem Vorbild der spanischen Indignados – bildete, nach Hause fuhren und Zelte holten.

„Wörterditschen“ hatte Kasky die Aktion vor dem Reichstag genannt. Sie hatten zwischen Bäumen Wäscheleinen gespannt und eine große, farbig besprühte Pappe mit der Frage „Was ist Demokratie?“ aufgehängt. Was die Leute im Gespräch auf die Frage antworteten, hängten sie auf kleineren Pappen daneben. „Das hier ist Demokratie“, schrieb dann zum Beispiel der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele. „Porteur de paroles“ heißt Kaskys Aktion auf Französisch. Er hatte ein deutsches Wort gesucht, das beschreibt, wie ein Stein über das Wasser hüpft, weil auch dieses Bild in dem Begriff steckt. Jemand hatte ihm gesagt, dass es „ditschen“ heißt – also „Wörterditschen“.

Kaskys arbeitet in Frankreich in der Unternehmensberatung seines Vaters als Teamtrainer, hat aber seinen Zweitwohnsitz in Berlin. Hier hat er auch 2009 die PAD-Company gegründet, deren Ziel es ist, Menschen politisch zu aktivieren. „PAD steht für Professional Amateurs & Dilettants“, sagt er. „Ein Dilettant ist im ursprünglichen Sinn des Wortes jemand, der etwas aus purer Freude an der Sache tut.“ Kaskys möchte politisch wenig gebildeten Menschen Wissen vermitteln, damit sie eine eigene Haltung entwickeln und sich ihrer Stärken bewusst werden. Es ist auch die Idee der Demokratiebewegungen, vom Arabischen Frühling bis zu Occupy. Und die Idee hat eine lange Tradition.

2010 traf Pierre Kaskys auf einem politischen Festival die Gruppe Le Pavé – französische Intellektuelle, die eine Genossenschaft für politische Bildung gegründet haben. Le Pavé, der Name stammt vom 68er-Slogan „Unter dem Pflaster der Strand“ ab, war ursprünglich ein Projekt für arbeitslose Akademiker. Sie sollten die Auswirkungen der Globalisierung auf die Bretagne untersuchen.

Le Pavé bewegt sich in der Tradition der Education populaire, der Volksbildung, die in Frankreich, dem Land der ausgeprägten Klassenunterschiede und Eliteschulen, Tradition hat. Die kommunistische Partei forderte 1945 sogar ein eigenes Ministerium für die Volksbildung. Die Konservativen verhinderten das. Heute unterstehen die Abend- und Stadtteilschulen der Education populaire dem Ministerium für Jugend und Sport.

Der Volksbildungsbegriff staubte mit den Jahren etwas an. Seit 2006 wird er von Le Pavé mit Witz und Kreativität wieder aufgefrischt. Kaskys machte bei Le Pavé ein Praktikum und importierte anschließend deren Aktionen nach Berlin.

Sein eigenes Ding

„Man hat uns immer gesagt, dass die wirtschaftlichen und ökologischen Probleme komplex seien und nur von Experten zu verstehen“, erzählt Kaskys. Eben mit dieser Haltung will sich ja auch Occupy nicht mehr abfinden. So wurde die linke Tradition der Volksbildung auch in Occupy-Zeltstädten weiter geschrieben. Kaskys glaubt aber, dass basisdemokratisch geführte Versammlungen nicht ausreichen, um politischen Widerstand dauerhaft zu organisieren. „Menschen brauchen eine Struktur“, sagt er. Die möchte er mit der PAD-Company anbieten. Er hat sich von Occupy distanziert, er macht jetzt sein eigenes Ding.

Kaskys hat eine Eliteschule besucht, studierte Politikwissenschaften am renommierten Science Po in Paris. Während der Semesterferien absolvierte er eine Ausbildung zum Reserveoffizier. Linke Aktivisten misstrauen ihm deshalb manchmal. Im Workshop „Petite histoire, grande histoire“ erzählt Kaskys von seinem Großvater, der aus einer kosakischen Adelsfamilie komme und sein Vorbild gewesen sei. Noch im hohen Alter habe er sich engagiert, Hilfslieferungen in die Ukraine organisiert und sich darum gekümmert, dass strahlengeschädigte Kinder in Frankreich behandelt werden können.

In seinem nächsten Workshop möchte Kaskys dann genauer „analysieren, warum wir uns politisch engagieren“. Im Oktober wird weiter am Bewusstsein gearbeitet.

Kathrin Schrader schrieb im Freitag zuletzt über ihre Erfahrungen mit einer Ménage à trois. Sie hat Pierre Kaskys kennengelernt, als sie sich selbst bei der Occupy-Bewegung engagierte

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