Es kommt darauf an, was hinten rauskommt." Dieses Diktum des Altbundeskanzlers Helmut Kohl kommt einem in den Sinn, wenn Caligulas Geliebte Caesonia zielstrebig auf die weiße Kloschüssel zustöckelt, die da allein auf weiter Flur im hinteren Bühnendrittel aufgestellt ist. Sie hockt sich hin und presst: Nichts. Trotz aller Kraftanstrengung: Verstopfung. Schon seit Monaten. Frank Castorf lässt seine Inszenierung, die Albert Camus Stück Caligula (1938) mit der Erzählung Die Geschichte des Auges (1928) und dem Fragment Der Tote (1943) von Bataille zusammenspannt, auf dem Scheißhaus beginnen. Die Art und Weise, wie die "drängenden Staatsgeschäfte" rund um diesen Thron erledigt werden, ist an Defätismus jedenfalls kaum noch zu überbieten. Eine nachgereichte Apokalypse zum Millennium und zum gerade begonnenen 00-(Toiletten)-Jahrgang.
Analsadistisch, verklemmt, faschistoid, so hat Castorf Caligulas Hofstaat inszeniert. Ziemlich lustlos treiben die Schauspieler infantile Spielchen: Sackhüpfen und Eierlaufen. "Die Welt ist so, wie sie ist, nicht wirklich befriedigend", sagt Helicon (Kurt Naumann). Caligula (Bernhard Schütz) sieht "voll Scheiße" aus und will den Mond, "La Lune", vom Himmel holen. Die Erkenntnis, dass Sterblichkeit und Unglücklichsein auf Erden nicht zu überwinden sind, legitimiert seine Tyrannen-Herrschaft. Aber wie seine Macht funktioniert, zu dieser Frage bietet die Inszenierung zwischen solcherlei Gedankenfetzen und Kalauern wenig Erhellendes. Als wäre Castorfs Analyse in einem riesigen, schwar zen Loch versackt. Selbst die Schauspieler, die zuletzt in Schmutzige Hände oder Dämonen die Bühne mit Leben füllten, finden keinen Grund, von dem sich ihre Aktionen abheben könnten. Bernhard Schütz ackert wie ein Wahnsinniger an der Monstrosität seiner Figur. Matthias Matschke und Kathrin Angerer treten als wandelnde Tomatenköpfe auf. Und aus einer Bodenluke quillt ein riesiger aufblasbarer Schwellkörper, als würde das Theater seinen Schauspielern die Zunge herausstecken. Trotzdem gibt es am Premierenabend auch ein paar Momente, die aus dem finsteren Rahmen fallen und nicht von der Energie des Todestriebs gespeist zu sein scheinen. Etwa wenn der auf seinen Beinen etwas wacklige Joachim Tomaschewsky über die Liebe doziert und gesteht: "Am meisten liebe ich meine Geliebte."
Die Volksbühne, die in diese Spielzeit mit dem Motto "Ohne Glauben leben" gestartet ist, sucht auf ihrem Kurs des politischen Theaters nach neuen Verbündeten und ist bei Batailles "Anti-Ökonomie" fündig geworden. Bataille veröffentlichte 1949 La part maudite ("Der verfemte Teil"), sein Werk über politische Ökonomie, in dem er das Prinzip einer allgemeinen Ökonomie entwickelt, in der die (ehemals sakrale) Verausgabung oder Verschwendung der Reichtümer Vorrang hat vor der zweckgebundenen Produktion. Der Grundgedanke seiner Theorie ist kurz gesagt, dass der Mensch nicht (nur) lebt, um zu arbeiten, also aus Notwendigkeit und Kalkül zu handeln, sondern aus reinem Selbstzweck. Der Mensch könne erst im Verschwenden des eigenen Lebens Freiheit oder "Souveränität" erlangen. Zu den von Bataille beschriebenen Formen der Verschwendung gehört neben der Feier und den Künsten auch die sexuelle Ausschweifung. Insofern schließt sich hier der Kreis zur Geschichte des Auges, Batailles literarischem Debüt. In La part maudite findet sich auch der Hinweis auf Albert Camus, dessen Verdienst es sei, so Bataille, gezeigt zu haben, dass eine Revolution ohne Krieg nicht möglich sei. In einer Zeit, in der sich Kunst praktisch nicht mehr von Kommerz und Konsum unterscheiden lässt, gräbt die Volksbühne also zwei Konzepte einer radikalen Ästhetik aus, die für Kunst als Revolte stehen. Was an Camus und Bataille zu Beginn des 21. Jahrhunderts besonders interessieren dürfte, ist dass ihr Denken frei von idealistischen Utopien ist.
Nun sieht es aber so aus, als sei Castorfs Inszenierung bei dem an sich viel versprechenden Unternehmen, Batailles "Anti-Ökonomie" dem Caligula-Prinzip entgegen zu setzen, in eine Sackgasse geraten. Verfolgte die Volksbühne unter Castorf nicht von Anbeginn eine Ökonomie der Verausgabung? Exzessives, zweckfreies Sich-Verausgaben der Schauspieler auf der Bühne, Feste am Rosa-Luxemburg-Platz am laufenden Band, das schien bislang so etwas wie die Betriebsanleitung, mit der die Volksbühne eine Position gegen den "affirmativen Charakter" der Kunst im bürgerlichen Kulturbetrieb behaupten konnte. Batailles Obszönes Werk auf die Bühne zu bringen, ist dass nicht in diesem Fall dasselbe, als wollte man versuchen, sich seine eigenen Obsessionen zu "erklären"?
Im zweiten Teil der Inszenierung, der auf Batailles Geschichte des Auges basiert, wird der Exzess "gespielt". Merkwürdigerweise vergeht dabei aber nicht nur den Schauspielern die Lust am Spiel, sondern auch den Zuschauern die Lust am Zuschauen. Es gibt keinen Raum mehr für das Imaginäre. Zeichentheoretisch gesprochen fallen Signifikat und Signifikant zusammen. Salopp gesagt, kastriert sich das Theater selbst. Wenn das auf offener Bühne geschieht, ist das obszön. Am deutlichsten sichtbar wird dieses Dilemma, das den Volksbühnen-Künstlern sicher nicht verborgen geblieben sein wird, als gegen Ende der Aufführung eine Stripperin auftritt.
Erstaunlicherweise macht es doch einen Unterschied, ob man einer halbnackten Schauspielerin auf den Busen starrt oder auf ein Paar Hightech-Silikon-Titten einer Sexarbeiterin. Die entblößte Schauspielerin ist in ihrer Rolle noch mit der Kraft der Illusion ausgestattet, auf eine hinter der Darstellung liegende Realität zu verweisen. Ihr Spiel, ihre Kunst vermag im Prinzip zu rühren oder zu verführen. Und der Guckkasten, auf Hartmut Meyers Bühne in einem leuchtenden Orange gerahmt, als gälte es, ein Ausrufungszeichen zu setzen - hier Theater, nicht Wirklichkeit! -, diese Illusionsmaschine dient ja nicht zuletzt dem Zwecke der Verhüllung des wahren Tauschs: Geld gegen Arbeit. Die nackten Tatsachen des professionellen Striptease hingegen verweisen auf nichts als sich selbst: Die Orgie ist vorbei.
An der Volksbühne herrschte schon am Premierenabend eine gewisse Katerstimmung. Und wie so oft bei Castorfs Inszenierungen haben diese Stimmungen etwas Seismographisches, sie bringen das soziale Klima das außerhalb des Theaters spürbar ist, auf den Punkt. Für "Feel good"-Spektakel hat sich die Volksbühne schließlich noch nie zuständig gefühlt. Insofern hatte die Unzufriedenheit, mit der man das Theater nach diesem Abend verließ, etwas durch und durch realistisches.
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