Bei Müllers hat's gebrannt

ORTE DER KINDHEIT "Bei Müllers hats gebrannt-brannt-brannt, da sind wir hin gerannt-rannt-rannt. Da kam ein Polizist-zist-zist, der schrieb uns auf die List-List-List. ...

"Bei Müllers hats gebrannt-brannt-brannt, da sind wir hin gerannt-rannt-rannt. Da kam ein Polizist-zist-zist, der schrieb uns auf die List-List-List. Die List, die fiel in Dreck-Dreck-Dreck. Da war mein Name weg-weg-weg. Bei Müllers ... " Ewig konnte das so weiter gehen. Abklatschen hieß das Spiel. Wir standen uns zu zweit gegenüber, sangen die entsprechenden Verse und klatschten dazu mal in die eigenen Hände, mal dem Gegenüber auf die ausgestreckten Handflächen. Dabei ging es nicht um Wettkampf, eher um Geschicklichkeit und darum, immer schneller zu werden, ohne sich zu versprechen und zu verklatschen. Meistens endete das in einem wuseligen Handgemenge und schallendem Gelächter, in dem sich die Anspannung des konzentrierten Nicht-aus-dem-Takt-Kommens entlud. Und dann gings wieder von vorn los. Noch einmal und noch einmal. Bis es eines Tages tatsächlich brannte, bei Müllers.

Müllers Bauernhof war unsere Welt. Wir, das waren die Kinder vom Wilmshof. Eine Horde von zehn bis fünfzehn Kindern zwischen fünf und zwölf Jahren, die alle im selben Haus wohnten. Sozialer Wohnungsbau, sechziger Jahre, geburtenstarke Jahrgänge. Aber viel zu kleine Wohnungen mit nur einem Kinderzimmer. Mit drei Kindern galt unsere Familie bereits als "kinderreich", was fast so schlimm war wie "asozial". Anfangs war sie schön, diese zu dritt bewohnte Welt mit einem Doppelbett für die beiden Mädchen und dem Einzelbett für den kleinen Bruder. Je größer wir wurden, desto enger wurde es. Mein Kinderschreibtisch stand schließlich im elterlichen Schlafzimmer, der meiner Schwester im Kinderzimmer, und mein Bruder musste seine Hausaufgaben am Küchentisch machen. Hatten wir die erledigt oder auch nicht, hieß es kurz und knapp "Wir gehen runter", und bis zum Einbruch der Dunkelheit waren wir damit beschäftigt, die Gegend rund um den Wohnblock unsicher zu machen.

Der Wilmshof war eine Sackgasse, die in einer Wendemöglichkeit für Autos endete. Hinterm Haus befand sich eine Grünfläche mit Wäscheständern und der Kinderspielplatz, dahinter lag die B73, die über Buxtehude und Stade an die Nordseeküste führt. Dort herrschte immer dichter Verkehr, und zum Feierabend gab's täglich Staus. Deshalb sollte später die A26 durchs Alte Land gebaut werden. Niedersachsens damalige Wirtschaftsministerin Breuel (heute Expo-Chefin) hatte immer schon irgendwelche Teilabschnitte genehmigt, während die Proteste der Umweltschützer in Hamburg den Bau langfristig blockierten.

Auf der anderen Seite, dem Wohnblock gegenüber lag Müllers Bauernhof. Er war das Zentrum all unserer Streifzüge und Abenteuer. Manchmal müssen wir wie eine Plage gewesen sein für Bauer Müller, seine Frau und "Heinzi", den älteren Bruder des Bauern, der im Krieg einen Arm verloren hatte. Er war mein Held, weil er mit einer Hand und unter Zuhilfenahme seiner Zähne seine Schnürsenkel binden konnte. Meistens durften wir überall dabei sein, zugucken und manchmal auch mithelfen. Beim Kühemelken, Schweinefüttern, Getreidemähen, Pferdestriegeln ... Alles andere waren Nebenschauplätze wie die Schlachterei Aldag, wo jeden Montag Schweine geschlachtet wurden. Man konnte das todesängstliche Quieken der Viecher bis auf die Straße hören. Es stank dann immer nach angesengten Borsten, und das Blut lief über eine leicht abschüssige Toreinfahrt in den Rinnstein. Am Ende des Schlachttags stand der Geselle in einer großen weißen Schürze vor dem Tor und spülte die blutige Suppe mit einem Wasserschlauch auf die Straße.

An die Schlachterei grenzte die Autowerkstatt Piotrowski, auf deren Vorplatz wir das ganz seltene blaue Glas aus dem Granulat suchten wie Bernsteinsammler die goldbraunen Krümel am Spülsaum der Ostsee. An den Schotterplatz grenzten eine Pferdekoppel und der Löschteich der Dorffeuerwehr.

Die kam an einem bis dahin friedlich verlaufenen Sonntagabend zu einem unerwarteten Großeinsatz. Wir saßen gerade beim Abendbrot in der Küche, als draußen plötzlich ein merkwürdiger Lärm ausbrach. Meine Mutter sprang ans Fenster, ohne jedoch sehen zu können, was vor sich ging. Sie glaubte, Müllers würden ein Feuerwerk veranstalten. Aber davon hätten wir doch gewusst. Wir hatten Hochsommer, und das Heu, das im Dachgeschoss des großen Rinderstalls für die Fütterung der Mastbullen lagerte, hatte sich durch einen Schwelbrand selbst entzündet. Vermutlich. Vielleicht war es auch Brandstiftung. Das konnte nie geklärt werden.

Dieser Dachboden war einer unserer liebsten Spielplätze. Streng verboten natürlich. Zu den besten Zeiten hatten wir den ganzen Heuboden mit einem komplizierten System aus Gängen und Höhlen durchzogen. Einmal fiel der kleine Bauerssohn Achim durch eine Luke ins Erdgeschoss und landete mit einem Schädelbasisbruch im Krankenhaus. Danach war erst einmal Schluss mit dem Höhlenbau.

Hier war ein Feuer ausgebrochen und verwandelte innerhalb weniger Minuten unser Kinderparadies in ein flammendes Inferno. Unvorstellbar war die Hitze und vor allem der Krach. Der kam von den zerplatzenden Dachziegeln und von den Schreien der Tiere, die in Todesangst an ihren Ketten zerrten. Ein paar geistesgegenwärtige Nachbarn wagten sich todesmutig in die Stallungen, befreiten die Rinder aus ihrem Gefängnis und trieben sie auf die Wiese vor dem Stall. Einigen von ihnen brannte bereits das Fell. Es war grauenhaft. Wir standen da, glotzten und konnten nichts tun. Die Feuerwehr war vor allem damit beschäftigt, zu verhindern, dass das Feuer auf andere Gebäudeteile des Hofs und auf unseren Wohnblock übergriff. Es dauerte die ganze Nacht, bis das Feuer gelöscht war. Irgendwann holte uns unsere Mutter von der Straße, um uns ins Bett zu bringen. Besagter Abklatsch-Reim kam danach schlagartig aus der Mode.

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