Als in Berlin die Mauer fällt, hockt Robert irgendwo in einem verschlafenen Nest im Erzgebirge und verbringt die Tage mit Haushaltsarbeit und Kinderpflege. Unterbrochen nur von gelegentlichen Ausflügen in die Hauptstadt, um seine Geschäfte als Übersetzer russischer Literatur zu tätigen. Die Zeit verstreicht ereignislos. Dass sie überhaupt vergeht, wird sichtbar nur am Heranwachsen des Kindes.
Robert führt eine von der Welt zurückgezogene, monadische Existenz. "Der späteste Sozialismus ließ nicht mehr viel Luft zum Atmen", schreibt Michael Schindhelm über den beklemmenden Stillstand am Ende der DDR. Plötzlich wird Norderode, gelegen an der Grenze zu Bayern, zur "Frontstadt". Aber der Held des Romans, der immer mit Blick auf den Zaun gelebt hat, kann sich nicht mit den "revolutionären" Massen identifizieren, die sich nun in Form von Trabbi-Kolonnen durch das kleine Städtchen gen Westen wälzen und mit ihren Zweitaktern die Luft verpesten. "Die Grenze ging auf, und ich konnte nicht aufstehen und hinübergehen." Für einen, der nie ganz dazugehörte, dessen Identität sich nicht über die Identifikation mit dem sozialistischen Kollektivwesen herausbildete, sondern sich seit der Schulzeit in einem Prozess permanenter Nicht-Anpassung herausbildete, ist das die am wenigsten überraschende Reaktion. Und dennoch, in dem Moment, als das Ende der real existierenden sozialistischen Staaten unaufhaltbar herannaht, deren Lebensbedingungen von Robert als überwiegend repressiv und lebensfeindlich erlebt und erinnert werden, scheint die Identifikation des "Keinheimischen", wie sich der Ich-Erzähler selber nennt, mit seiner Nicht-Heimat am größten.
Roberts Reise erzählt von einem Leben in einer Welt voller Widersprüche. Folglich kann es im Leben nicht darum gehen, sich in einer Wirklichkeit möglichst gut, also widerspruchsfrei, einzurichten. Selbst noch in der Idylle der schweizerischen Bergwelt prallen Welten zeitlich und räumlich aufeinander, je nachdem ob man im Flugzeug über sie hinweg fliegt oder mit beiden Füßen auf dem Boden stehend über die Gipfel schaut. Michael Schindhelm hat einen Romananfang geschrieben, der die Inkongruenz von Zeit und Raum postuliert, ein quasi physikalischer Blick auf die Welt, der Albert Einsteins Relativitätstheorie heraufbeschwört. Zum Ende des Romans, das mit dem Ende der Ära Kohl in Deutschland zusammenfällt, wird sich der Blick des Erzählers auf die Wirklichkeit aus einer Flughafenlounge mittels moderner Kommunikationstechnologie weiter vervielfacht und beschleunigt haben.
RobertsReise ist der Versuch, von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu berichten, als die sich Geschichte in Biografie niederschlägt. Der Autor hat seinem Roman eine Vorbemerkung voran gestellt: "Die Figuren dieses Buches sowie die Ereignisse, in die sie verwickelt werden, sind Erfindungen des Autors, die er in der Wirklichkeit gemacht hat." Diese Formulierung lässt offen, wie weit die autobiografischen Bezüge im einzelnen gehen. Aber zumindest was den beruflichen Werdegang angeht - Studium im sowjetrussischen Woronesch, Arbeit an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften, Übersetzertätigkeit und schließlich eine Theaterintendanz in der Schweiz -, folgt der Roman der Biografie seines Autors.
Michael Schindhelm ist 1960 geboren. Über seine Generation sagt der Ich-Erzähler im Roman: "Jungpioniere sind wir gewesen, aber ohne Pioniergeist, Kinder der DDR, aber ohne eine positive Vorstellung davon, was die DDR war." Das von der staatlichen Propaganda verbreitete Feindbild vom kapitalistischen Ausland jedenfalls verfing bei dieser Generation nicht. West-Fernsehen, amerikanische Popkultur und Wrigley's Spearmint Gum wurden selbstverständlich konsumiert und gehörten zum festen Inventar einer auf der Ebene materieller Bedürfnisse zufrieden gestellten Wohlstandsjugend. "Also setzte der Staat bei uns zur Quadratur einer Generation an. Das Ergebnis waren viele kleine Karos. Mutationen im Strahlenfeld des Opportunismus."
Anders als etwa Thomas Brussig in seinem Roman Am kurzen Ende der Sonnenallee ist Schindhelm nicht an den charmanten oder grotesken Seiten von DDR-Jugenderinnerungen interessiert. Sein Ton wird knapp, bitter, sarkastisch, wenn er beschreibt, wie Robert, das "Vater unser" rezitierend, einen Deutschlehrer aus der Fassung bringt, der ihn im Unterricht damit schikaniert, dass er nicht zum Jugendweiheunterricht geht. Zu derartigen Konfrontationen mit Repräsentanten der Ordnungsmacht kommt es notwendigerweise immer wieder. Schindhelm rekapituliert Szenen einer Jugend, die Robert zum Nonkonformisten werden lassen.
Dazu gehören auch seine Begegnungen mit außergewöhnlichen Frauen. Zum Beispiel die exzessive Affäre des Schülers mit einer Russischlehrerin, die ihn eigentlich in Einzelstunden auf ein Auslandsstudium in der Sowjetunion vorbereiten soll, die Gelegenheit aber vor allem nutzt, um ein bisschen Abwechslung in ihr tristes Eheleben zu bringen. Später die Liebe zur glamourösen Giudi aus Padua, deren Einladung zur Flucht in den Westen er widersteht, oder zu der Afrikanerin Tene, die als Waisenkind aus Guinea-Bissau nach Russland deportiert wurde. Diese Frauen kreuzen Roberts Weg und bieten, selber fremd in Russland, dem Fremden Zuflucht vor den katastrophalen Lebensumständen für Auslandsstudenten in Woronesch. Von Dauer können diese Beziehungen freilich nicht sein. Den Übergang von der DDR in den Westen begleitet wiederum eine Frau. Robert verlässt seine Kleinfamilie im Erzgebirge, um mit der Tschechin Helena und ihrer Tochter Lisa in die Schweiz zu ziehen, wo er als Intendant eines Theaters arbeitet.
Die Schweiz, das klassische Exilland in Europa, nennt Schindhelm "eine späte DDR". Sie ist klein genug und bietet reichlich Gelegenheit zum häufigen Grenzübertritt, die Robert zu brauchen scheint, um sein Nomadentum nicht aufgeben zu müssen, ein permanentes auf der Wanderschaft sein zwischen immer neuen Abschieden und Aufbrüchen, wie sie die Arbeit am Theater mit sich bringt. Ein Lebensentwurf, der so etwas wie einen dritten Weg markiert zwischen Exil und innerer Emigration.
Michael Schindhelm: Roberts Reise. Roman. Deutsche Verlagsanstalt, München 2000, 314 S., 39,80 DM
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