Wie jeden Morgen wartet Theodor Bruch auf den Wagen, der ihn in die Klinik bringen soll. Oder auf einen Anruf aus der Klinik. Aber es kommen keine Anrufe, schon lange nicht mehr. Und der Wagen wird auch nicht mehr vorfahren. Der Pelzmantel, mit dem Bruch auf seinem Sofa sitzt, ist aber dennoch ganz praktisch, denn es fehlt bereits an Geld für Kohlen, um die Grunewald-Villa zu heizen. Ein Jahrhundertchirurg im Ruhestand, alt, krank und nicht mehr ganz zurechnungsfähig weigert er sich starrsinnig zu realisieren, daß er bereits seit einem halben Jahr pensioniert ist. »Senile Demenz« lautet die Diagnose seiner Haushälterin und ehemaligen OP-Schwester Luise Kubin, je nach Stimmungslage des Herrn Geheimrats von diesem »Frau Kubin«, »Kubinchen« oder »Luise« genannt.
Eine merkwürdige Schicksalsgemeinschaft bilden die beiden: Sie spielt sein Theater mit, treusorgend, aufopfernd, augenrollend, kopfschüttelnd und händeringend. Komplett hilflos in den praktischen Dingen des Lebens war das Genie ja schon immer ... Und fühlt sich dabei in ihrer Rolle sichtlich wohl, denn jetzt steht Theodor Bruch endlich ein bißchen unter ihrer Fuchtel, und sie ist die einzige, die auch die dunklen Seiten seiner Person kennt. Ihr muß keiner etwas über den Professor erzählen, schließlich hat sie ihr ganzes Leben mit ihm zusammengearbeitet. Wenn einer über den »Chef« Bescheid weiß, dann sie. Das kriegt jeder Besuch zu hören, der sich erdreistet, irgendwelche schlauen Bemerkungen über ihren einstigen Arbeitgeber zu machen. Nicht einmal das ist er mehr, denn die beiden leben von ihrer Witwenrente und ihrem Sparbuch. Einzig der Geist der verstorbenen Dame des Hauses, die »bezaubernde Gloria«, ist ihr Verbündeter, wenn der Alte einmal gar zu ungnädig mit ihr umspringt.
Das Beziehungsgefüge dieses verhinderten Liebespaars, die Geschichte einer lebenslangen Arbeitsbeziehung ist das Herzstück in Anna Badoras Inszenierung, glänzend besetzt und im Zusammenspiel von Wolfgang Hinze und Anke Hartwig in allen komischen und tragischen Höhen und Tiefen ausgelotet.
Um dieses Paar herum rankt sich ein Intrigenspiel der Aasgeier, wenn man so will das Königsdrama innerhalb dieser Tragikomödie. Hoffnungslos devot der eine, und ebenso hoffnungslos geschäftsuntüchtig der andere, umflattern Dr. Martin Sperling (Ernst Alisch), ein ehemaliger Assistent Bruchs, und der Geschäftsmann Reiner Manitlowski (Marcus Kiepe), genannt »Manni« (nomen est omen), den entthronten Meister-Chirurgen. Dessen bereits erlöschender Ruhm und maßlose Selbstüberschätzung sind alles, worauf sie das Luftschloß einer »Bruch-Klinik« errichten. Sperling spekuliert auf einen Posten als Chefarzt, Manni auf die Millionen. Dieses Figurenpaar, angelegt als Kriegsgewinnler beziehungsweise -verlierer, typische Mitläufer und Wendehälse, denen Christoph Hein noch einiges an nicht aufgearbeiteter deutscher Geschichte ins Gepäck mitgegeben hat, blieb am Premierenabend völlig im Vagen und hatte auch von Seiten der Darsteller Wolfgang Hinze wenig entgegenzusetzen.
Im dritten Akt, beim nächtlichen Ortstermin im Cordula-Palais, einer Kriegsruine, die Manitlowski als geeignetes Objekt für den Klinikbau ausgekundschaftet hat, verlagert sich das Spiel bis in den Zuschauerraum, wo Theodor Bruch seinen letzten großen Auftritt hat als charismatischer Visionär, der sich an seinen vergangenen Ruhmestaten berauschend in den Wahn steigert, die ganze Welt läge ihm zu Füßen. Alle anderen sind in diesem Moment im wahrsten Sinne des Wortes zu Statisten degradiert. Wolfgang Hinze brilliert im Flirt mit dem Publikum, hat leichtes Spiel und die Lacher auf seiner Seite. Macht macht verführerisch. Nichts scheint unmöglich. Als dann noch überraschend eine alte Geliebte Bruchs als Eigentümerin des Cordula-Palais auf der Szene erscheint und in den Verkauf einwilligt, sieht es so aus, als würde tatsächlich nur noch das Geld fehlen, um das Projekt Wirklichkeit werden zu lassen.
Doch das Ende naht in Gestalt einer blindgläubigen Patientin, die ihre letzte Hoffnung in Bruch setzt: eine junge Frau (Myriam Schröder), der der Chirurg bereits einen Brusttumor erfolgreich entfernt hat, und bei der sich nun Metastasen gebildet haben, will unbedingt noch einmal und ausschließlich beim Geheimrat unters Messer. Der läßt sich wider besseres Wissen mit Goethes Faust auf den Lippen - »Das Unbeschreibliche, das Ewig-Weibliche zieht uns hinan« - zu einer septischen Operation in seinem Badezimmer überreden, die für die Patientin tödlich endet. Ein Notfall. Der Abzess war ein Sarkom. Inoperabel. Ein Fall für die Pathologen und den Staatsanwalt. Als Sperling ihm die Nachricht überbringt, daß der Geldgeber für die Klinik abgesprungen ist, hat Bruch einen kurzen, klaren Moment: »Dann habe ich gar nichts mehr.«
Doch am Schluß sitzt das geistig umnachtete Genie wieder völlig ungebrochen im Mantel auf seinem Sofa. Das Telefon hat geklingelt und diesmal wird sogar ein Wagen vorfahren.
Aus dem Bühnenbild von Karl Kneidl weht einem der bräunliche Muff der fünfziger Jahre entgegen. Die Spießigkeit hat hier nichts Lustiges wie etwa in Marthalers Die Stunde Null. Nur ein paar Umzugskartons, die auffällig unauffällig im Hintergrund der Bühne darauf warten, daß die alten Geschichten eingepackt und vom Rhein an die Spree geschafft werden, signalisieren die Kontinuität in fünfzig Jahren deutscher Geschichte. Deutlicher oder auch vordergründiger politisch wollte Anna Badora nicht sein.
Bei allen Parallelen zum Ende der Karriere Ferdinand Sauerbruchs, der tatsächlich unter ganz ähnlichen Umständen 1948 von der Berliner Charité entlassen wurde, nachdem durch seine Kunstfehler mehrere Patienten zu Tode gekommen waren, ist Bruch vor allem ein Stück über Machthaber im Moment ihrer Entmachtung. Bruch bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen außergewöhnlicher Leistung und abgrundtiefer Entgleisung. Er will seine Macht nicht abgeben, aber er kann es auch nicht, weil er umgeben ist von anderen, die ihm (und sei es um den Preis von Betrug und Selbstbetrug) diese Macht erst verleihen und sie immer wieder stabilisieren, weil sie von ihr abhängig sind oder aus ihr eigenen Nutzen ziehen. Interessant ist, wie das Stück auf subtile Weise für die gescheiterten »Täter« im Dienste der Allgemeinheit (in Wissenschaft, Kunst oder Politik) Partei ergreift. Aber anders als zuletzt Botho Strauß mit Ithaka, geht Hein nicht so weit, die Opfer zu legitimieren. Bei Strauß verkündet Athene zum Schluß: »Wir aber verfügen, was recht ist: aus dem Gedächtnis des Volks wird Mord und Verbrechen des Königs getilgt. Herrscher und Untertanen lieben einander wie früher.« Bei Christoph Hein bleibt das Scheitern tragisch.
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