Kollektiver Schlüpfer

Traumatisch Jenny Erpen becks literarisches Debüt

Die Geschichte vom alten Kind beginnt mit einem Kaspar Hauser-Motiv: ein Mädchen mit einem leeren Eimer in der Hand wird nachts in der Geschäftsstraße einer Stadt gefunden. Da es nicht in der Lage oder nicht willens ist zu sagen, wie es heißt und wohin es gehört, und da auch die Nachforschungen der Polizei keinen Aufschluß über die Identität des Findlings ergeben, wird er in ein Kinderheim eingeliefert.

Diese Aufzuchtanstalt für elternlose Kinder bietet die idealen Bedingungen für die Erfüllung des größten Wunsches des Mädchens, der darauf zielt, die eigene Existenz zum Verschwinden zu bringen. Es ist glücklich über alles, was ihm an Ansätzen oder Resten von Individualität genommen und durch eine äußere Ordnung ersetzt wird: daß die Heimkinder zum Beispiel keine eigene Unterwäsche haben, sondern pro Woche aus einem allgemeinen Fundus einen passenden Schlüpfer, ein Unterhemd und ein Nachthemd zugeteilt bekommen, dieser »kollektive Schlüpfer« für den »großen Kollektivleib« gibt dem Mädchen Sicherheit.

Das Heim ist eine Welt ohne Spiegel. Eitelkeit wird als eine der sieben Todsünden geächtet. Mit dem Eintritt in diese abgeschlossene Welt beschleunigt sich ein Prozeß der Regression, den das Mädchen nicht nur herbeisehnt, sondern bewußt herbeizuführen versteht: Keine Mutter, kein Vater, keine Vergangenheit, keine Zukunft, kein Ich.

Bereits der Körper des Mädchens, ein gestalt- und geschlechtsloser, dickleibiger Kloben, ist Ausdruck einer umgekehrten Subjektwerdung. Auf alles, was mit der aufkeimenden Sexualität seiner Mitschüler und Mitschülerinnen zu tun hat oder an die eigene erinnert, der Anblick eines knutschenden Pärchens, die Frage einer Zimmergenossin nach dem Vorgang der Menstruation, die Beobachtung zweier Jungen bei ihren pubertärer Sexspielchen bringen das Mädchen dazu, sich zu übergeben. Am liebsten liegt es auf der Krankenstation im Bett, wo die Verantwortung selbst noch für die einfachsten Körpervorgänge vom Krankenpersonal übernommen werden und der den Körpergeruch neutralisierende Duft des Infektionsmittels die eigene physische Präsenz nahezu vergessen läßt.

Jenny Erpenbecks Geschichte wird aus einer distanzierten Beobachterposition in Form eines nüchtern analysierenden Berichts erzählt. Trotzdem erahnt der Leser mehr über die Vergangenheit des Mädchens als er erfährt. Es finden sich Hinweise auf die Zerstörung Dresdens im zweiten Weltkrieg neben solchen, die auf ein traumatisches Kindheitserlebnis schließen lassen, ebenso wie auf schwere Schuldgefühle, ohne daß sie sich zu einem geschlossenen Bild zusammensetzen ließen. An einigen Stellen im Text spricht unvermittelt ein Ich, als bräche plötzlich ein Rest an Erinnerung oder Ich-Bewußtsein in den Bericht. Doch das, wofür es keine Worte gibt, bleibt unausgesprochen. Daß die Erzählung keine eindeutigen Erklärungen liefert, sondern Raum für eigene Vorstellungen der Leser läßt, ist ihre Stärke. Die Pointe am Schluß erzählt sich auf den letzten drei Seiten im Vergleich zur grundsätzlichen Langsamkeit der Betrachtungsweise bis zu diesem Punkt relativ abrupt, ohne das Rätsel um das alte Kind tatsächlich zu lüften.

Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit, die Jenny Erpenbecks Großmutter, die DDR-Schriftstellerin Hedda Zinner, Anfang der 80er Jahre erlebte. Ein Mädchen, das mit Hedda Zinner in Briefkontakt stand, entpuppte sich erwachsene Frau, die sich unter falschem Namen als 14jährige in ein Kinderheim hatte einweisen lassen. Um ermessen zu können, wie eine solche Zurückversetzung in die Lebenswelt einer Jugendlichen praktisch zu bewerkstelligen ist, ließ sich die 1967 geborene Jenny Erpenbeck selbst als 27jährige, ohne daß ihre Mitschüler das Schauspiel durchschauten, in die elfte Klasse eines Berliner Gymnasiums einschulen.

Eine gesellschaftliche Situation, in der, bei gleichzeitiger Infantilisierung der Kultur, die reale Kindheit und Jugend immer mehr zu verschwinden drohen, verleiht Jenny Erpenbecks Geschichte vom alten Kind eine Aktualität, die weit über ihre spektakuläre Au thentizität hinausgeht. Die Geschichte läßt sich zugleich als mutige Antwort auf eine spezielle, »ostalgische« Seelenlage lesen: fasziniert von der Tragik des Falles sympathisiert sie einerseits mit dem Wunsch, die Zeit anzuhalten, andererseits entmystifiziert sie die trügerische Sehnsucht nach Aufgehobensein im Kollektiv.

Jenny Erpenbeck: Geschichte vom alten Kind, Eichborn, Berlin 1999, 106 Seiten, DM 29,80

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