Das in Deutschland derzeit meistgespielte Stück über den Krieg in Jugoslawien ist Familiengeschichten. Belgrad (1998) von der jungen Belgrader Autorin Biljana Srbljanovic, eine scharf beobachtete, verstörende Innensicht auf die Fortsetzung des Krieges in kleinfamiliären Strukturen. Der theatralische Clou: Kinder, besetzt mit erwachsenen Schauspielern, spielen Vater, Mutter, Kind. Jeder ist sich selbst der nächste und seines Nächsten größter Feind. Nach einem deutschsprachigen Pendant sucht man vergeblich. Fraglich auch, ob es in nächster Zeit oder jemals geschrieben werden wird.
Bedenkt man die Schnelligkeit, mit der sich einerseits der politische Konsens in der deutschen Öffentlichkeit gegenüber Zweifeln an der Richtigkeit und Rechtmäßigkeit des Nato-Einsatzes abdichtete, und andererseits das schlagartig nachlassende öffentliche Interesse am Kosovo nach Beendigung der militärischen Operationen, lässt sich daraus schließen, dass der Bedarf an einer kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle der Deutschen in diesem Krieg auch auf dem Theater nicht sonderlich groß ist.
Zwar reagierten die Theater während des Nato-Bombardements mit Spielplanänderungen und veranstalteten Anti-Kriegs-Lesungen und Diskussionen; das Theater an der Ruhr lud die Belgrader Inszenierung von Srbljanovics Familiengeschichten ein; aber für eine grundlegende Repolitisierung des künstlerischen Selbstverständnisses sorgte dieser Krieg offenbar nicht.
Das mag zum einen daran liegen, dass auf die Wahrnehmung und intellektuelle Verarbeitung des Kriegs in Jugoslawien hierzulande zutrifft, was 1991 der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard in Bezug auf den Golfkrieg auf seine gewohnt provozierende Art vertrat. Er bezeichnete in dialektischer Umkehrung der Clausewitzschen Formel von der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln den Golfkrieg als "Nicht-Krieg", da er "die mit anderen Mitteln fortgesetzte Abwesenheit des Politischen" sei. Der Golfkrieg sei der erste "konsensuelle Krieg" gewesen, bei dem es nicht um Eroberung, sondern um die Durchsetzung einer "neuen televisuellen Weltordnung" ging. Paul Virilio nannte den Golfkrieg den "ersten Fernsehkrieg" der Geschichte, die Horizontlinie der gewaltigen Schlachten sei auf den Maßstab eines TV-Bildschirms geschrumpft. Mit solchen optischen Täuschungen politischer Art würden wir es in Zukunft häufiger zu tun bekommen.
In diese Kategorie der optischen Täuschungen fiel unter anderem die über Wochen und Monate dauernde mediale Inszenierung des Nato-Luftkriegs als humanitärer Einsatz, an dessen Ende der historisch bedeutsame Wechsel der deutschen Armee aus der Rolle der Täter in die Rolle der Befreier gefeiert wurde. Die Bühne für diese Form nationaler Identitätskonstruktion war das Fernsehen. Ganz ohne Beteiligung der Dramatiker und Theater gelang die nationale Selbstverständigung. Gewundert hat das höchstens die Theaterleute selbst, die ihre öffentlich subventionierte Arbeit hierzulande seit Schillers Nationaltheater-Idee stets durch diese politische Funktion in ganz besonderem Maße legitimierten, im Unterschied zu vielen anderen europäischen Staaten, in denen Staat und Theater nie auf diese spezifische Weise miteinander verknüpft waren.
Interessanterweise kommt denn auch keiner der deutschsprachigen Theatertexte, die sich mit dem Krieg in Jugoslawien beschäftigen, ohne die Reflexion der medial vermittelten Realität aus. Angefangen bei Oliver Czeslik, dessen Stück Havarie in Afrika (UA: Volkstheater Rostock, März 1999) anhand der Begegnung eines bosnischen Vergewaltigungsopfers mit seinem Peiniger in Deutschland die Frage nach Schuld und Sühne auf die Alternative Selbstjustiz oder Kriegsverbrecherprozess vor einem deutschen Gericht zuspitzt. Der Untertitel Ein Stück Realtheaterund Film verweist auf eine komplexe Darstellungsweise, die den Vorgang der Fiktionalisierung auf dem Theater transparent macht. Peter Handkes Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (UA: Burgtheater Wien, Juni 1999), gewidmet "dem Theater als freiem Medium", erzählt von einem Versuch, Kriegserfahrungen als Film zu fiktionalisieren. Am Schluss gestehen sich die Filmregisseure, ein Amerikaner und ein Spanier, ihr ästhetisches und ethisches Scheitern ein und brechen ihr Vorhaben ab.
Falk Richters Stück Peace hingegen, fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Einmarsch deutscher Soldaten in Jugoslawien an der Berliner Schaubühne uraufgeführt, thematisiert die hemmungslose Vermarktung des Krieges als virtuelle Realität durch eine Gruppe von karrieristischen Medienarbeitern - Journalisten, Fotografen, Künstler -, die keinerlei Bewusstsein dafür hat, dass sie selbst längst Teil der Kriegsmaschinerie geworden ist. Ähnlich wie bei Handke liegt Richters Text die kulturpessimistische Einschätzung zugrunde, dass die Antwort auf die Realität des Krieges zur Zeit nur das ästhetische Scheitern sein kann. Theworld outside is real, heißt es etwas hilflos im Untertitel zu Peace. Die Theaterkritik freilich ist da in weiten Teilen anderer Meinung und attestierte künstlerisches Unvermögen. Bis zum Beweis des Gegenteils, dem "gelungenen" Gegenwartsstück zum Krieg, werden die Theater sich wohl - wie gehabt, auch wenn die Kriege nicht mehr sind, was sie waren - an den Klassikern schadlos halten.
Oliver Czeslik: Havarie in Afrika. In: Theater, Antologie Aktuelle Stücke 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1999, 603 Seiten, 25,- DM
Peter Handke: Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999, 127 Seiten, 32,- DM
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.