Kuppelei in Mitte

MONUMENTALTHEATER Matthias Merkle inszeniert »Die Celestina«

Die Stadt giert nach Frühling. Aber noch ist es zu kalt, als dass die Oranienburger Straße zum Flanieren einladen würde. Und so trägt die Neu-Berliner Ausgehgesellschaft ihre Abendgarderoben in den unzähligen neu eröffneten Bars, Clubs und Restaurants rund um den Hackeschen Markt spazieren. Im »Kurvenstar« etwa oder in der »riva-bar« sind die Nachtschwärmer von durchgestylten Interieurs umgeben, die die überwiegend jungen Männer und Frauen aussehen lassen wie in einer Filmkulisse oder in einem Werbespot für die »Neue Mitte«. Die Szenerie erinnert an Bret Easton Ellis' Beschreibungen der Yuppie-Kultur in American Psycho. Für diejenigen, die sich noch daran erinnern, wie es in Berlin-Mitte vor 10 Jahren aussah und zuging, hat dieser zur Schau getragene Reichtum, die gut gebügelte Glätte der Gesichter und Anzüge in Tateinheit mit der ritualisierten Coolness dieser Selbstdarsteller etwas Obszönes.

Bis vor kurzem noch bestimmten Baulücken und bröckelnde Altbaufassaden das Straßenbild. Nun verschwinden sie nach und nach. Das, was davon bleibt, Inseln der Unordnung, erinnert an die »alte« Mitte und ihre Blütezeit kultureller Zwischennutzung in den neunziger Jahre. Das Kunsthaus Tacheles am unteren Ende der Oranienburger Straße, einst Vorreiter der alternativkulturellen Hausbesetzer in Mitte, ist eine solche Insel im Mainstream der Gentrifizierung. Immer noch Ruine, hat das Tacheles jahrelange, für die Betreiber zermürbende Kämpfe mit Investoren um die Nutzungsrechte überstanden. Um den Preis freilich, dass auch das Konzept eines Atelierhauses mit Kino, Theater und Kneipe sich überlebt zu haben scheint. Die dazugehörende »Szene« gibt es nicht mehr. Hier lebt man von seiner eigenen Legende. Und trotzdem, der Ort hat immer noch einen eigenartigen Reiz: er steht für ein nicht eingelöstes Versprechen auf die soziale Produktivität schöpferischen Ungehorsams und autonome Lebens- und Arbeitsweisen jenseits von Markt und Profit.

Hier, im Theatersaal des Tacheles, hat das »Dramatische Theater« seine Inszenierung des 1499 anonym erschienenen Monumentalwerks des spanischen Renaissancetheaters Die Celestina auf die Bühne gebracht. Als Autor, zumindest der ersten 16 Akte, gilt der spanische Jurist Fernando de Rojas (1456-1541). Insgesamt umfasst der Text 21 Akte, die an einem Abend aufgeführt rund neun Stunden Spielzeit dauern. Der Regisseur Matthias Merkle und die Dramaturgin Antje Borchardt waren so fasziniert von dem Text, der in einer sprachlich brillanten, erst 1989 entstandenen Neuübersetzung von Fritz Vogelsang vorliegt, dass sie beschlossen, ihn nahezu ungekürzt als siebenteilige Theaterserie aufzuführen. Die hochdramatische Geschichte einer Liebesintrige um den jungen Ritter Calisto, der für die schöne Melibea entflammt ist, zeichnet sich aus durch große Monologe, in denen die Figuren ihre Gefühle ausbreiten, und durch rhetorisch zugespitzte Streitgespräche.

Die Intrige kommt in Gang, als Sempronio, ein Diener Calistos, diesem die stadtbekannte Kupplerin Celestina empfiehlt. Beide spekulieren darauf, den liebeskranken Calisto nach Strich und Faden auszunehmen. Ein zweiter Diener, Parmeno, gibt sich zunächst noch alle Mühe, seinem Herren die Treue zu halten. Aber als ihm Celestina eine Affäre mit der von ihm begehrten Areusa in Aussicht stellt, wechselt er auf die Seite der Geschäftemacher. Melibeas Verweigerung gegenüber Calisto bricht nach Celestinas Werbung für den Jüngling schließlich zusammen, und der glückliche Ritter belohnt die Kupplerin mit einer wertvollen Kette. Seine unangemessene Großzügigkeit entfacht den Neid seiner Diener. Obwohl sie selbst für das Zustandekommen der Liebschaft so gut wie nichts getan haben, fordern Sempronio und Parmeno ihren Anteil an dem kostbaren Geschenk. Es kommt zu einem heftigen Streit, in dem Celestina ausgerechnet von dem gutmütigen, ihr seit gemeinsam verbrachten Kindheitstagen nahestehenden Parmeno erstochen wird. Die beiden Burschen werden auf frischer Tat ertappt und öffentlich hingerichtet. Dies veranlasst die Dirnen Elicia und Areusa, den Tod ihrer Liebhaber an dem höfischen Liebespaar zu rächen. Aber bevor der von ihnen angeheuerte Killer zum Zuge kommen kann, hat Calisto nach einem Rendevous mit Melibea einen tödlichen Unfall. Aus Schmerz über den Verlust des Geliebten begeht Melibea Selbstmord.

Damit lässt Matthias Merkle die Geschichte enden und verzichtet auf die Klage des Vaters über den Tod der Tochter. Die Inszenierung schlägt sich damit tendenziell auf die Seite Celestinas. Das Geschäft der Kupplerin wird Lucrecia, Melibeas Dienerin, übernehmen, die stets loyal ihrer Herrin gefolgt war und eher ablehnend das ausschweifende Leben im Hause Celestinas beäugt hatte. Aber schließlich lässt sie sich doch anstecken von der Freiheit, mit der selbst Melibea die standesgemäßen Anforderungen an Sittsamkeit und Tugend in den Wind schlägt, um Calisto in ihrem Garten zu empfangen. Lucrecia ergreift die Gelegenheit zum freien Unternehmerinnentum und tritt das Erbe der Celestina an.

Ohne den Text zu aktualisieren, dessen Melodie die Darsteller im Laufe der Proben dermaßen verinnerlicht haben, dass ihnen die Verse mit großer Leichtigkeit über die Lippen kommen, gelingt Matthias Merkle und Antje Borchardt eine ganz heutige Lesart des Stücks. Schon allein durch die Entscheidung, Celestina nicht als »alte Vettel«, als die sie immer wieder im Stück angesprochen wird, zu besetzen, sondern mit der jungen, schlaksig-kantigen Schönheit Saskia Taeger, wird mit der vordergründigen Moral des Stückes gebrochen. Die Kupplerin erscheint nicht länger als große Unheilstifterin, sondern als einzige realistisch denkende und handelnde Person. Ihre Tauschgeschäfte basieren immer auf einem fairen Preis-Leistungs-Verhältnis. Sie ist es, die den überschäumenden Liebeswahn zurückführt auf das triebhafte, sexuelle Begehren. Diese materialistische Entzauberung ist es, für die sie mit dem Tod bezahlen muss. 500 Jahre später und ganze Industriezweige weiter, scheint der Zugang zu den eigenen Wünschen und Phantasien eher stärker verbaut zu sein als leichter zugänglich. Kaum verwunderlich, dass sich die oben beschriebene Ausgehgesellschaft dieser Tage kaum ins Tacheles verirrt. Sie verpasst ein hinreissend charmantes 11-köpfiges Ensemble, das in einer Nacht mehr Liebes-Geschichte erzählt als tausend Berliner Kneipennächte zusammen.

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