Mädchen aus Ost-Berlin

KEHRSEITE Jetzt hatten sie es also geschafft. Ich beobachtete sie schon eine ganze Weile aus dem Augenwinkel, wie sie sich langsam, kichernd und zischelnd ...

Jetzt hatten sie es also geschafft. Ich beobachtete sie schon eine ganze Weile aus dem Augenwinkel, wie sie sich langsam, kichernd und zischelnd anpirschten. Schaute ich direkt zu ihnen hinüber, hielten sie an, blickte ich wieder in den Himmel, rückten sie über die weite Rasenfläche ein Stück näher. Genau genommen waren sie zu dritt, denn sie hatten eine Babypuppe dabei, die fast genauso groß war wie sie selbst. »Was machst du da?« Gute Frage. Die Sonne schien, ich war vom Alexanderplatz in den Prenzlauer Berg gelaufen und hatte mich am Fuße des Wasserturms in den Park gelegt. Genau genommen machte ich also nichts, außer dazuliegen und mit zwei kleinen Mädchen ein albernes Spiel zu spielen. »Seht ihr doch, was ich mache.«

Das Foto ist am 1. Mai 1988 aufgenommen. Mit dem zehnten deutschen Einheitsgeburtstag hat es nichts zu tun. Es hält eine zufällige Begegnung fest. Die beiden Mädchen wollten unbedingt, dass ich sie fotografiere. Ansonsten weiß ich nichts über diese Kinder aus dem Prenzlauer Berg. Aber es ist das letzte Bild auf dem Film. Und die einzige von 36, an diesem Tag in Ost-Berlin gemachten Aufnahmen, mit der ich heute noch irgendetwas anfangen kann. Die anderen dokumentieren einen Blick, den ich fast vergessen hatte. In ihm liegt die ganze Borniertheit des Tagesvisums, mit dem mir für 25 DM die Stippvisite im sozialistischen Wonderland gestattet wurde. Er berührt die Oberfläche, ohne etwas zu erkennen. Im Nachhinein erscheint es geradezu logisch, dass selbst der scheinbar naive Blick nur Klischees zu produzieren in der Lage war. Man mag es bedauern, dass die Zeit für etwas anderes dann nie mehr reichen sollte. Das ist ähnlich wie mit den Geschichten, die man der Großmutter nicht mehr rechtzeitig entlocken konnte, bevor sie sie für immer mit ins Grab nahm.

Kurz entschlossen war ich am Morgen nach Ost-Berlin gefahren. Ich wollte wenigstens einmal die Parade auf der Karl-Marx-Allee aus der Nähe gesehen haben. Ein Ansinnen, mit dem ich mich unter Westberlinern sogleich als »Zugereiste« geoutet hatte. Jedenfalls wäre dieses Vorhaben fast daran gescheitert, dass ich den größten Teil des Vormittags damit verbrachte hatte, auf meinen Freund zu warten. Er musste einen anderen Grenzübergang als ich benutzten, weil er einen Westberliner Pass hatte. Es sollte dann noch öfter vorkommen, dass ihm die Einreise verweigert wurde. Aber das konnte ich damals natürlich nicht wissen.

Ziemlich entnervt kam ich irgendwann allein am Alexanderplatz an. Männer, die ihre Fahnen einrollten, kamen mir entgegen, latschten über am Boden liegende Friedenstauben aus Papier, Muttis in blauen Hemden standen gelangweilt herum oder versuchten, ihre Kinder bei Laune zu halten ... Meine Neugier war verflogen. Ich weiß nicht mehr, was ich eigentlich erwartet hatte. Zu sehen gab es jedenfalls weder irgend etwas Großartiges noch richtig Skurriles. Was hatte ich dort zu suchen? Schließlich wäre ich auch im Leben nicht auf die Idee gekommen, am 1. Mai auf eine Gewerkschaftsdemo im Tiergarten zu gehen.

Es war klar, dass die Mädchen sich mit meiner Antwort nicht zufrieden geben würden. Aber es gab keine bessere. Inzwischen hatten sie es sich auf ihrer Decke gemütlich gemacht und schauten mich neugierig an. Nun wollten sie wissen, warum ich hier so allein herum lag, von wo ich gekommen war und ob ich auch Kinder hätte. Die mit dem glatten dunklen Haar und den großen braunen Augen, die unter einem langen Pony hervor linsten, lispelte ganz wunderbar. Wenn sie denn den Mund aufmachte. Das Reden überließ sie lieber der Freundin, die ihren Sehfehler mit einer vorlauten Klappe wettzumachen schien. Ohne es zu ahnen, ergaben die beiden ein sich perfekt ergänzendes Paar. Und, was sie nicht wissen konnten, sie waren gerade dabei, meinen Tag zu retten.

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