Bei Heiner Müller ist Schluß. Die Halle hat keinen Ausgang.« Mit diesen Worten erläuterte Henning Rischbieter sein Konzept der Ausstellung zur Theatergeschichte im geteilten Deutschland von 1945 bis 1990, die Mitte Mai, während des Theatertreffens in der Berliner Akademie der Künste eröffnet wurde. Und dieses Statement beschreibt nicht nur die Architektur der Ausstellung, es ist auch Ausdruck eines Theaterverständnisses, das die darstellende Kunst tief verwurzelt in gesellschaftspolitischen Entwicklungen begreift. Und in der Tat wird die These, daß mit dem Fall der Mauer sowie Heiner Müllers Shakespeare- und Müller-Inszenierungen eine Epoche deutscher Theatergeschichte zu Ende gegangen ist, beim Durchwandern durchaus anschaulich und nachvollziehbar. Daß das Theater in der Zeit des Kalten Krieges unmittelbarer Austragungsort ideologischer Kämpfe zwischen Ost und West wurde, dafür steht schon die erste Gegenüberstellung von Bertolt Brecht und Gustaf Gründgens. Der aus dem Exil nach Ostberlin zurückgekehrte Stückeschreiber/Regisseur auf der einen, der »erfolgreichste Theatermann des ÂDritten Reiches«, der Schauspieler/Regisseur auf der anderen Seite - im Zusammenhang betrachtet, markieren sie den unterschiedlichen Umgang in Ost und West mit dem Faschismus. Aber die Ausstellung stellt nicht den ideologischen Kampf der Systeme in den Vordergrund, sondern läßt die Dokumente für sich sprechen und miteinander in den Dialog treten. Darin liegt ihre Stärke: sie lädt ein zum Hingucken und zeugt von einer Elaboriertheit unterschiedlicher Regiehandschriften und Theatersprachen diesseits und jenseits des »eisernen Vorhangs«, von einem künstlerischen Reichtum, der beeindruckt.
So kann man Gründgens in seiner letzten Rolle als Philipp II in Schillers Don Carlos in einem Filmdokument auf sich wirken lassen, und ein paar Schritte weiter das vielleicht eindrucksvollste Dokument der Ausstellung überhaupt bestaunen: ein aus der Fotodokumentation zu Brechts Hofmeister-Inszenierung aus dem Jahre 1950 mit Hilfe digitaler Bildbearbeitung erzeugtes Video. Es illustriert auf dem Stand heutiger technischer Möglichkeiten das uralte Dilemma jeder Form der Theaterdokumentation, die immer nur eine Annäherung an das flüchtige Ereignis einer Aufführung darstellt. Ein dritter Regisseur konterkariert diese Gegenüberstellung und scheint die gerade gewonnene Einsicht in einen Ost-West-Gegensatz wieder zu relativieren: Fritz Kortner. Wofür das »durch« im Ausstellungstitel steht, wird deutlich, wenn man ins Detail geht: So haben alle drei, Brecht, Kortner und Gründgens in den fünfziger Jahren Goethes Faust inszeniert, und - man lese und staune - : Brecht bot Gründgens 1949 Die heilige Johanna der Schlachthöfe zur Uraufführung an, der wiederum Kortner in der Rolle des Mauler besetzen wollte, - ein Vorhaben, das zehn Jahre später ohne Kortner und nach Brechts Tod in Hamburg realisiert wurde.
Kortner stellt Rischbieter die Theaterarbeit von Wolfgang Langhoff, Wolfgang Heinz und Adolf Dresen am Deutschen Theater, dem Staatstheater der DDR, gegenüber. Zwei unterschiedliche Wege zum »Volkstheater« markieren die Gegenüberstellungen von Benno Besson (»komödiantischer, kritischer Realismus«) mit Peter Zadek (»ästhetischer Realismus«). Weniger zwingend erscheint die Konfrontation von Steins und Grübers Arbeiten an der Schaubühne am Halleschen Ufer mit Rudolf Noeltes »bürgerlichen Endspielen« sowie der Zusammenhang von Alexander Langs Klassiker-Inszenierungen am Deutschen Theater mit Claus Peymanns Zeit in Stuttgart und Bochum. Ergänzt wird diese Auswahl durch einen Komplex zur Politisierung des Theaters in den sechziger und siebziger Jahren sowie einem Bilderbogen, der das Drumherum um die »Regiegrößen« skizziert.
Unterhaltsam im besten Sinne macht den Ausstellungsbesuch der Einsatz moderner Ausstellungstechnik. Ausgestattet mit einem Kopfhörer, der wie ein Empfänger funktioniert, betritt man die unterschiedlichen »Sendebereiche« von Tondokumenten, die die entsprechenden Bilder und Filme akustisch beleben. Zum Beispiel den Chor in Benno Bessons Inszenierung Der Frieden (1962) singen zu hören, das vermittelt einen sinnlichen Eindruck von der viel beschworenen Musikalität dieser Aufführung, den keine noch so wortreiche Umschreibung (für denjenigen, der nicht dabei war) ersetzen kann.
»Begrüßt« wird man gleich am Anfang von Friedrich Lufts Stimme der Kritik, in der sich der RIAS-Kritiker in seiner ersten Sendung mit Angaben zu Körpermaßen und Familienstand seinem Radio-Publikum vorstellt und über die Frage philosophiert, wozu er und das Theater in der Trümmerlandschaft eigentlich da seien. Auch das ein Phänomen, das die Ausstellung in Erinnerung ruft: den aus heutiger Sicht kaum noch vorstellbaren Hunger nach Theater in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Nie wieder gab es so viele Bühnen in Deutschland wie vor der Währungsreform und nie wieder so viele Besucher pro Theatermitarbeiter, nämlich 1.388. Besucherstatistik und quantitative Spielplananalysen gehören zum Handwerkszeug des Theaterhistorikers, und besonders im ersten Kapitel des überwiegend aus sorgfältig recherchierten und chronologisch angeordneten Werk-Porträts bestehenden Ausstellungskatalogs führt die »Erbsenzählerei« zu differenzierten Einsichten ins Theaterleben der ersten Nachkriegsjahre.
Eine lückenlose gesamtdeutsche Theatergeschichtsschreibung darf man nicht erwarten, sie war auch nicht das Ziel des Ausstellungsprojekts. Es schließt in gewissem Sinne an Rischbieters Forschungsprojekt zum Theater im Faschismus an, ist aber in erster Linie eine Präsentation aus den Nachlässen der Akademie, Theatergeschichte aus der subjektiven Sicht eines Theaterkritikers und Zeitzeugen, der hier auch die Chance genutzt hat, die für seine Generation prägenden Theatererfahrungen vorzuführen. Ein Versuch, noch einmal Maßstäbe zu setzen oder zumindest in Erinnerung zu rufen.
Akademie der Künste, Hanseatenweg 10: Durch den eisernen Vorhang. Theater im geteilten Deutschland von 1945 bis 1990, bis zum 1. August 1999. Katalog (Propyläen Verlag): 288 Seiten, 301 Abbildungen, 55 DM
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