Schau-Geschäft

HAMBURG Tom Stromberg eröffnet die Saison im Deutschen Schauspielhaus

Vielleicht wird es eines Tages Häuser geben, in denen rund um die Uhr Theater gespielt wird. In allen Sälen, auf allen Gängen und Hinterbühnen. Die Bretter, die die Welt bedeuten: ein langer Tresen. Die Zuschauer können kommen und gehen, wann sie wollen. Es ist immer etwas los. Und wenn mal der Strom ausfällt, macht nichts, dann hat sicher irgend jemand ein Feuerzeug in der Tasche. Erleuchtung auf Sparflamme. Und dafür, dass die Show immer weiter geht, dafür sorgen wir dann selbst. Zuschauer, Schauspieler das ist einerlei. Bis dahin haben Theaterwissenschaftler sicher auch den genetischen Code für den menschlichen Spieltrieb geknackt. Die Sonne geht auf, der Mensch öffnet seine Augen und denkt, er sitzt im Theater. Und am Eingang zu dieser Spielhölle, die in Wahrheit der Himmel auf Erden ist, steht ein freundlicher Herr und drückt den Besuchern Glückskekse in die Hand. Sie enthalten alle nur eine Botschaft: »The Show must go on!«

Wer auch immer das Gerücht in die Welt gesetzt haben mag, das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg habe ein konservatives Publikum, er hatte unrecht. Tom Stromberg scheint das zumindest geahnt zu haben, denn er überließ dem französischen Choreographen und Konzeptkünstler Jérôme Bel den Saal mit seinen knapp tausend Plätzen, um am vergangenen Wochenende vorzuführen, wo er derzeit anzusetzen ist, der State of the Art der Kunst des Spektakels.

»The show must go on!« Bereits der Titel klingt wie eine Drohung. Die ironisch zu verstehen war, zumindest für diejenigen, die die selbstreflexiven Arbeiten Jérôme Bels kennen. Der Choreograph, der hier erstmals mit einem Schauspieler-Ensemble arbeitete, spielt mit Darstellungskonventionen und demontiert die Bedingungen der Bedeutungserzeugung mehr als neue Bedeutungen hervorzubringen. Ganz im Unterschied zu den jungen Hausregisseuren, die sich eher mit recht konventionellen Mitteln um so etwas wie eigene Regiehandschriften bemühen. Jan Bosse mit einer Uraufführung von Helmut Kraussers Stück Haltestelle. Geister, Ute Rauwald mit einer Inszenierung von Sarah Kanes Gier und Ingrid Lausund mit einem eigenen, aus Ensemble-Improvisationen entwickelten Stück, das Die Unsterblichen heißt. Bekam man im ersten Teil des Abends in einer dieser Inszenierungen die Schauspieler als Darsteller ihrer Rollen zu sehen, so traf man sie in Jérôme Bels Anti-Theater als sich selbst präsentierende Nicht-Tänzer wieder. Dabei ging es so verblüffend einfach zu, dass manche Zuschauer dachten, sie hätten es mit Scharlatanerie zu tun. Ein DJ saß an der Rampe und legte Pop-Klassiker aus den letzten 30 Jahren auf. Eine universelle Sprache, die jeder versteht und die deshalb auch als Einladung zum Mitsingen, Mitklatschen und Mitschunkeln aufgefasst wurde.

Auf der Bühne wurden die Titel einfach wörtlich genommen. Bei Let the sun shine aus dem Musical Hair gingen auf leerer Szene ganz langsam die Lichter an. Bei Come together von den Beatles betraten 21 Schauspieler aus dem Ensemble in Alltagsklamotten die Bühne und stellten sich in einem Halbkreis auf. Zu David Bowies Let's dance zappelten die Schauspieler los wie in der Schuldisco. Das war der Moment, in dem der erste Zuschauer meinte, eine Einladung zum Mitspielen bekommen zu haben. Er kletterte auf die Bühne und reihte sich in die Chorus line ein. Das war zwar nicht vorgesehen. Aber dem Publikum gefiel's oder besser gesagt, es gefiel sich in seiner neuen Rolle. Auch der DJ, der zu Private Dancer von Tina Turner ein Tanzsolo hinlegte, wurde heftig beklatscht. Je mehr die Aktivitäten auf der Bühne sich dem Nullpunkt näherten, desto aktiver wurde das Publikum. Die schönste Idee des Abends, nämlich Imagine von John Lennon in einem stockfinsteren Theatersaal - sogar die Notbeleuchtungen waren ausgeschaltet - zu spielen, ging dann in schon fast tumultartiger Unruhe unter. Soviel Action hat es im Zuschauerraum vermutlich seit Handkes Publikumsbeschimpfung nicht mehr gegeben.

Theater ist Schau-Geschäft. Schluß mit dem Erhabenen, mit Kunstgenuß und bürgerlicher Aufklärung! Das war das programmatische Statement zur Eröffnung der Ära Stromberg am Hamburger Schauspielhaus und der Eintritt dieses traditionsreichen Hauses ins postdramatische 21. Jahrhundert.

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