Und Sie, verstehen Sie immer alles?

ZWISCHEN PUPPEN-PASSION UND MENSCHENRECHTS-ORATORIUM Am Frankfurter TAT erproben Robert Schuster und Tom Kühnel mit ihrem Ensemble die Wiederauferstehung des politischen Theaters aus dem Geist der Affirmation

Nein, der Mensch hat eben nicht zwei linke Hände. Wie es wäre, wenn es so wäre, demonstrieren Caroline Peters und Robert Schuster in Gesten 1 unter dem Motto: Deuten lernen. Sie leiht ihm eine Hand, streckt ihren Arm von hinten durch seine Armbeuge, dass es aussieht, als hätte er tatsächlich zwei deckungsgleiche Hände. Im Gleichmaß bewegen sich die Hände vor seinem Bauch, um zu zeigen, dass der Mensch vermutlich immer ganz im Einklang mit sich und der Welt wäre, die reine Harmonie - wenn, ja wenn der Mensch eben nicht mit einer rechten und einer linken Hand ausgestattet wäre. Herr Schuster beugt sich nun ein wenig nach vorn und bewegt dabei seine Hände aufeinander zu: die Geste, wenn man so will, am Ursprung des Begreifens, der Mensch als Gesten-Tier, das sich durch seine Bewegungen zu der ihn umgebenden Welt ins Verhältnis setzt, als Homo faber, der diese Welt nach seinen Vorstellungen und Maßen formt. Am Schluss dieser Übung tritt der freundlich-distinguierte Herr zur Seite und behauptet im Brustton tiefster Überzeugung, dass der Asymmetrie der menschlichen Hände das dialektische Denken zu verdanken sei.

Ein kleiner alltäglicher Vorgang, vorgeführt von zwei weiteren Schauspielern, der in Echtzeit höchstens drei Minuten dauern würde, wird in kleinste bedeutungstragende Einheiten zerlegt, analysiert und minutiös erklärt: Ein Mann sitzt auf einem Stuhl am Tisch. Er greift nach einem Stift und bringt ein paar Worte zu Papier. Das Blatt gleitet zu Boden. Als er es aufheben will, betritt eine Frau den Raum. Sie begrüßen einander. Sie überreicht ihm ein Geschenk. Er zückt eine Münze und sie spielen ein Glücksspiel, bei dem die Frau gewinnt. Dass es dabei darum geht, wer den Einkauf erledigen muss, erfährt man erst beim abschließenden Schnelldurchlauf der Szene mit Ton.

Das ist einerseits banal. Aber nicht unbedingt selbstverständlich. Wie nebenbei wird hier an Grundlagen des Theaters erinnert, die, wenn man an die zur Zeit teilweise recht orientierungslos geführten Debatten etwa zum Thema Realismus denkt, keineswegs als allgemein verbindlich vorausgesetzt werden können. Die Realität, so lässt sich ganz schlicht aus dieser modellhaften Inszenierung von Tom Kühnel ableiten, ist das, worüber man sich in einer gemeinsamen Sprache verständigen kann. Der Mensch ist nie allein, heißt es an einer Stelle. Das Subjekt konstituiert sich in der Begegnung mit einem anderen, es erblickt sich im Blick eines Gegenüber. Mehr braucht man nicht, damit Theater statt findet. Erstaunlich unterhaltsam ist es außerdem, einfachste Wahrheiten vorgeführt zu bekommen wie neuste Forschungsergebnisse aus der Wunderwelt der Technik. Das hat etwas mit dem berühmten V-Effekt zu tun, nur dass die Erkenntnis, die dabei heraus springt, nichts mit einem "richtigen" Bewusstsein zu tun hat.

Im Gesten 2 sehen wir, wie sich das Kommunikationsverhalten durch den Telefonapparat in eine blicklose, die ursprüngliche Voraussetzung jedes Gesprächs, die Einheit von Zeit und Raum, überwindende Angelegenheit verwandelt. Das Schlussbild, ein wohl präparierter Anrufbeantworter, der bereit steht, um keinen Anruf zu verpassen, der aber nur noch das Tuten aufzeichnen kann, als Zeichen dafür, dass der Anrufer keine Nachricht hinterlassen wollte. Eine Pointe mit hohem Wiedererkennungswert.

Als Fingerübung bezeichnen Robert Schuster und Tom Kühnel diesen Abend. Die beiden am Regieinstitut der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin ausgebildeten Regisseure neigen zum Understatement. Seit bald vier Jahren arbeiten sie in Frankfurt am Main. Zunächst waren sie am Schauspielhaus engagiert, wo ihre Inszenierungen regelmäßig zu Publikumsrennern avancierten. Seit dieser Spielzeit arbeiten sie am TAT im Bockenheimer Depot. Sie hatten gehofft, dass ihnen "ihr" Stammpublikum an den neuen Ort folgen würde. Diese Hoffnung wurde zunächst enttäuscht. Das TAT ("Theater am Turm"), eingeführt als Aufführungsort für Gastspiele der internationalen Theater-Avantgarde einerseits und das Schauspiel unter der Intendanz von Peter Eschberg anderseits sprachen jeweils ganz unterschiedliche Publikumsgruppen an. Wer ins TAT ging, hatte im Schauspiel nichts verloren. Und umgekehrt. Wie also sollten die traditionellen TAT-Besucher das Regieteam Kühnel/Schuster kennen, geschweige denn sich für deren Markenzeichen, die Kombination von Schauspiel und Puppenspiel interessieren? Und das auf Klassik abonnierte Stadttheaterpublikum geht eben nicht nur nicht ins ehemalige Straßenbahndepot im Uni-Viertel, es kann sich wahrscheinlich auch schlecht etwas vorstellen unter dem "Forschungsprogramm" mit dem Kühnel/Schuster ihre erste Spielzeit im TAT eröffneten. Klang ja auch mächtig didaktisch, wie sich die "TAT-Anfänge" präsentierten: Sprechen lernen ("Deutsch für Ausländer"), deuten lernen ("Gesten"), handeln lernen ("Das Welttheater"). Und auch ihr kollektives, anonymisiertes Autoren-Ich Soeren Voima war bis dato unbekannt und schon von daher nicht gerade geeignet, die Massen ins Theater zu locken.

So finden sich im TAT-Gästebuch neben allerlei euphorischen Danksagungen und Lob auch eine ganze Reihe gut gemeinter Ratschläge. Kühnel/Schuster sollten doch bitte wieder die schönen, phantasievollen Klassikerinszenierungen machen, für die man sie schätzen gelernt habe. Aber gerade das wollten sie eben nicht, als sie sich entschlossen, das Angebot zur Übernahme der Schauspielabteilung im Anfang 1999 wiedereröffneten, nun den Städtischen Bühnen angeschlossenen TAT anzunehmen, das der Frankfurter Ballettchef William Forsythe als künstlerischer und geschäftsführender Intendant leitet.

Für kurze Zeit waren Kühnel/Schuster auch für die neue Leitung der Schaubühne in Berlin im Gespräch. Aber es reizte sie mehr, ein eigenes Ensemble zu gründen, als sich mit ihrem ehemaligen Studienkollegen Thomas Ostermeier und der Choreographin Sasha Waltz die Schaubühne zu teilen. Mit der Schaubühne wurden Koproduktionen vereinbart, wie das an Brechts Lehrstück DieMaßnahme angelehnte Menschenrechts-Oratorium Das Kontingent. Es stellt die alte Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt. In diesem Falle ist es die Frage, ob im Interesse der weltweiten Durchsetzung der Menschenrechte eine Soldatin einer internationalen Friedenstruppe ihren Kollegen erschießen musste, der den Sinn und Zweck ihrer Mission anzweifelnd seine "neutrale" Position aufgeben und mit der Waffe diejenigen bekämpfen wollte, die unter seinen Augen die Menschenrechte verletzten. Ein komplexes Knäuel an Konflikten, eine Tragödie des zum Handeln gezwungenen Menschen, für die es keine einfache Lösung gibt. Die musikalisch und darstellerisch brillante Inszenierung enthält sich einem Urteil. Sie fand als einzige der Schaubühnen-Eröffnungspremieren nahezu ungeteilte Anerkennung auch bei der Kritik.

Eine gewisse Nähe haben die Berliner und Frankfurter Neuanfängen auch dadurch, dass beide Häuser ein Mitbestimmungsmodell praktizieren und den Engagements eine Einheitsgage zugrundegelegt haben. Beide Neuanfänge wurden jeweils von einer programmatischen Stellungnahme der jungen Theatermacher begleitet. Aber damit hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf und die Unterschiede fallen ins Auge: Denn während die Schaubühne in ihrem Manifest verkündet, unter Ostermeier das Theater zu einem Ort der Repolitisierung einer "völlig entpolitisierten" Gesellschaft machen zu wollen, distanziert sich das "TAT-Forschungsprogramm" gerade von der klassischen Protesthaltung des Künstlers und vom Theater als Anstalt institutionalisierter Betroffenheit und Kritik. Wie eine vorweggenommene Beschreibung der Wirkungs-Problematik von Ostermeiers Personenkreis 3.1-Inszenierung, die sich über weite Strecken als Milieu-Studie über die Welt der Junkies, Alkoholiker und Obdachlosen entpuppte, liest man bei Soeren Voima: "Was einst aus einer genauen Wirklichkeitsbeobachtung abgeleitet war, ist heute leere Beteuerung eines Wunsches nach Veränderung. Die ideologische Überzeugung fehlt, um solche Aussagen anders als durch rein subjektive Empfindungen begründen zu können. Die Grundlagen der Kritik sind zerfallen. Die kritische Haltung wird schnell zur Pose des Besserwissers, die Aufregung über die Schlechtigkeit der Welt zum Sozialkitsch. Unser Konflikt mit den Alt- und Jung-68ern entzündet sich an diesem Zwang zur Haltung."

Statt auf Haltung setzen die Frankfurter aufs Modell. Was sie darunter verstehen, konnte man über Ostern im TAT noch einmal im Zusammenhang aller in dieser Spielzeit herausgebrachten Inszenierungen nachvollziehen. In Deutsch für Ausländer (Soeren Voima) nimmt das Ensemble Redewendungen und Alltagsrituale unter die Lupe. Die Zuschauer, angesprochen als Teilnehmer eines Deutschkurses - "Lernen Sie Deutsch, und es klären sich viele Seltsamkeiten" -, beobachten eine Gruppe von Angestellten, die eine Reihe von alltäglichen Sitationen gemeinsam zu bewältigen hat: Begrüßungen, Kaffeetrinken, Menschen kennenlernen, Frühstücken. Bis hin zu einer Liste von Hochzeitsgeschenken, die so ziemlich alles beinhaltet, was einem beim Spaziergang durch ein gut sortiertes Einrichtungshaus ins Auge fällt. Der möblierte Deutsche hat vor allem Angst, jemand könnte ihm die Butter vom Brot nehmen respektive von seinem Joghurt naschen oder unbefugt von seinem Multivitaminsaft trinken. Unter der Oberfläche von Höflichkeitsfloskeln lauern Feindseligkeit, Neid und Konkurrenz. Die Schauspieler entwerfen ein differenziertes, ausgeklügeltes System sozialer Kontrollmechanismen. Ordnungen sind da, um eingehalten zu werden. Die mikropolitischen Spielregeln sind brutal. Wer "draußen" ist und nicht "drinnen", sieht schlecht aus. Beziehungsweise sieht besonders gut aus, wie die attraktive Frau im lindgrünen Strickkostüm, die Jenny Schily in einer Solo-Szene spielt. Sie beschreibt in knappen, nüchternen Sätzen die Kurzbiografie einer "Wendeverliererin": wie ihre Ehe in die Brüche und die berufliche Karriere den Bach runter gingen. Hoffnungslos - aber immerhin sind die Besuchszeiten bei den Kindern geregelt.

Ähnlich wie in Gesten wird auch in Deutschfür Ausländer das scheinbar Selbstverständliche zum Modell vergrößert und damit durchschaubar. Ja, diese Mechanismen kenne ich, ohne sie käme ich nicht durch den Tag. Zu dieser Art Affirmation zwingt die Aufführung den Zuschauer, ohne dass sie den moralischen Zeigefinger heben würde. Kritik durch Affirmation, die trifft, wie unschwer am wiedererkennenden Lachen im Publikum zu bemerken war.

Als sich am Ostersonntag um die Mittagszeit an die 200 Zuschauer, jung und alt, im Bockenheimer-Depot eingefunden hatten, um sich Jesus' Passion als Puppenspiel anzusehen, spätestens aber bei der umjubelten Abendvorstellung von Kontingent war klar, dass das Schauspiel im TAT inzwischen doch so etwas wie eine eigene Zuschauergemeinde gefunden hat. Auch wenn die Abbildung eines Gekreuzigten in der grünen Maske des Phlegmatikers aus der Inszenierung Das Welttheater, mit der das Theater für sein "Ostern 2000"-Programm geworben hatte, zum öffentlichen Ärgernis wurde. Ein Gerichtsverfahren wegen Gotteslästerung - auch das wäre ein Modell, anhand dessen die Theaterleute am TAT sicher wieder einiges über die Realität in Erfahrung zu bringen wüssten.

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