Ernährungspolitik Die EU hat der Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln einen Korb gegeben. Verbraucherschützer toben. Dabei hätten die Farbsignale alles nur schlimmer gemacht
Selten verwandeln sich Politiker in so realitätsfremde Romantiker, als wenn es um die Ernährung geht. Gesundes Essen, hochwertige Produkte, sauber verarbeitete Zutaten und dazu ein Verbraucher, der als voll durchinformiertes Mitglied unserer transparenten Konsumgesellschaft die richtige Wahl überhaupt nicht verfehlen kann. So in etwa klingt das, wenn unsere Volksvertreter sich um den Markt der modernen Lebensmittel und dessen Optimierung bemühen, und so in etwa klang das auch, als die EU gestern eine "Klarere und schlüssigere Lebensmittelkennzeichnung für Verbraucher" auf den Weg brachte.
Gemeint ist damit nicht die von Verbrauchern geforderte Ampelkennzeichnung, die kalorienbeladene, fettreiche, stark zuckerhaltige oder extrem salzige Nahrungsmittel mit einem
t nicht die von Verbrauchern geforderte Ampelkennzeichnung, die kalorienbeladene, fettreiche, stark zuckerhaltige oder extrem salzige Nahrungsmittel mit einem roten oder gelben Tüpfel enlarven soll. "Klarer und schlüssiger" heißt, dass die bunten Punkte wegfallen. Was bleibt, sind auf der Vorderseite der Verpackung angebrachte "verwirrende Zahlen- und Prozentangaben", wie Verbraucherschützer jetzt wütend kritisieren.Entscheidung wie Reaktion waren absehbar nachdem sich die Fronten über Jahre verhärten durften: Während die Verbraucher auf die kindgerechte Ampellösung pochten, investierte die Lebensmittelindustrie eine Milliarde Euro in den Kampf dagegen, und immer wieder ging es um die gleichen Oberflächlichkeiten. Beispiel Apfelsaft versus Diät-Cola: Die Lebensmittellobby hält eine Kennzeichnung von Apfelsaft mit einem roten Zuckerpunkt für irreführend, weil eine Diät-Cola mit vielen grünen Punkten ja gar nicht gesünder sei. Man kann über soviel Selbstentblößung eigentlich nur lachen, aber der Verbraucherschutz versteht so etwas selbstredend als Kampfansage - leider nicht, ohne sich dabei genau so lächerlich zu machen.Geht es denn um die Gesundheit?So argumentierten die Essenschützer von Foodwatch am konkreten Beispiel, die Ampel sei gar nicht dazu da, ein Lebensmittel als gesund oder ungesund zu kennzeichnen, sondern über ein Lebensmittel zu informieren. Aber genau das ist falsch. Allein die Auswahl der gekennzeichneten Stoffe spiegelt, dass der Kunde auf einen Blick den Gesundheitswert eines Lebensmittels erkennen soll: Kalorien, Fett, gesättigte Fettsäuren, Salz oder Kristallzucker sind durch die Ernährungsforschung sämtlich als gesundheitlich relevant problematisiert worden, sei es wegen des angeblich volksvernichtenden Übergewichts, der teuren Diabetes-Epidemie oder der bedrohten Herzgesundheit der Bürger.Kann eine Lebensmittelkennzeichnung diese Probleme lösen? Natürlich nicht. Auch die Ampel wäre lediglich ein weiteres Deckmäntelchen für die Lebensmittelindustrie gewesen, wenn auch ein unbequemes, weil man sich für die Manipulation des Farbenspiels noch ein paar durchtriebenere Täuschungen hätte einfallen lassen müssen als die bisherigen. Die gebrandmarkten Produkte entsprechend hätte umformulieren müssen. Daher auch der vehemente Kampf gegen die bunten Punkte.Das Resultat wäre langfristig aber nicht mehr Transparenz gewesen, sondern noch mehr Täuschung, weil sich für jeden einzelnen Stoff, der hinter einem roten Punkt steht, ohne größere Probleme eine lebensmitteltechnologische Alternative finden lässt, die dann nicht mehr in welche Kennzeichnung auch immer mit einfließt, aber unter Umständen noch unerforschte Wirkungen auf die durchaus komplizierte Physiologie des menschlichen Stoffwechsels entfaltet. Wir kennen das ja alles schon: Das Fett weicht Verdickungsmitteln und Geschmacksverstärkern. Kristallzucker weicht Süßstoffen oder anderen Zuckern, und niemand ist davon auch nur das geringste bisschen gesünder geworden, abgesehen von den Herstellern dieser entfremdeten Rezepturen.Im Urwald der SonderverordnungenWas keinesfalls heißt, dass die EU der Gemeinschaft nun einen größeren Gefallen erwiesen hätte, weil sie zu einer anderen Kennzeichnung verpflichtet. Richtig an der Aussage der federführenden CDU-Politikerin Renate Sommer ist allein, dass "die Vielfalt der existierenden Gesetze mittlerweile nur noch schwer überschaubar" sei. Ein Irrtum ist, dass dies für Händler und Hersteller ein Problem darstellt, wie Frau Sommer meint. Betroffen sind allein die Verbraucher, die im Urwald der Sonderverordnungen nicht mehr im geringsten erkennend können, welche Perversitäten ihnen auf völlig legalem Wege zugemutet werden. Völlig absurd ist deshalb die Behauptung, der vorliegende Verordnungsentwurf samt der eine EU-weit einheitlichen Lebensmittelkennzeichnung beseitige "alle diese Missstände". Die Wahrheit ist, dass er wirkungslos verpuffen wird. Und das natürlich auch soll.Die nun beschlossene Kennzeichnung ohne Signalfärbung ist und bleibt ein übler Kompromiss, der den Herstellern immerhin die Möglichkeit nimmt, durch selbst festgelegte Portionen als Bezugsgröße einen irreführenden Eindruck vom Energiegehalt eines Lebensmittels zu erwecken, aber darüber hinaus keinerlei Verbesserung bringen wird, außer, dass die Futtergiganten nun sagen können, sie seien genug in die Pflicht genommen worden. Der Kern des Problems aber bleibt unangetastet:, ein komplett aufgeweichtes Lebensmittelrecht, das von Ernährungsfunktionären aufgrund seiner hygienischen Errungenschaften gepriesen wird, und dafür eine komplette Chemikalisierung und Kommerzialisierung unserer Nahrung ermöglicht, an der wir mit unserem gesunden Menschenverstand auch künftig noch ausgiebig scheitern dürfen.Denn was tatsächlich und dringend nötig wäre, eine grundlegende Reform eben dieses Lebensmittelrechts nämlich – das ist bislang nicht einmal zum Gegenstand der Diskussion erkoren worden.
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