Auch Wissen braucht Integration

Sarrazin Wissen wird missbraucht, wenn es verwendet wird, um eigene Ziele zu untermauern. Der Fall Sarrazin ist nur die Spitze des Eisbergs

Im Fernsehen gibt es eine Sendung, die heißt „Wissen macht Ah!“. Der Titel legt nahe, dass Wissen zu Erkenntnis führt. Leider ist das nicht immer so, und Thilo Sarrazin ist da kein Einzelfall. Er ist ein eher ungeschickter Vertreter jener Gruppe, die sich meist schlau und selektiv aus dem bedienen, was ihnen wissenschaftliche Quellen bieten. So viele Politiker, Wirtschaftsakteure oder Intellektuelle meinen, Wissen sei dazu da, die eigenen Ziele oder vorgefertigten Meinungen zu untermauern. Es lässt sich nur der Eisberg bemühen. Sarrazin ist die Spitze. Den Rest sieht keiner.

Im Zusammenhang mit Sarrazin war nun viel über Intelligenz zu lesen. Aber: Die Hirnforschung ist zwar fruchtbar, doch weder kann sie den Begriff der Intelligenz erklären, noch eignet sich ihr Wissen, um die komplexen Einflüsse zu verstehen, denen eine menschliche Seele ausgesetzt ist. Was voreiligen Schlüsse nicht verhindert. Weil Studien zeigen, dass Computer und Netz unsere Konzentration im Mittel alle 25 Minuten unterbrechen, heißt es, das Internet zerstöre unser Kurzzeitgedächtnis. Weisen Studien darauf hin, dass sich die Hirnaktivität von computerspielenden Jugendlichen ändert, werden Amokläufe mit der Existenz solcher Spiele erklärt. Oder mehr, folgt man dem Kriminologen Christian Pfeiffer: „Computerspiele machen dick, dumm und traurig“.

Zum Dicksein: Die Politik will wissen, dass Übergewicht die Volksgesundheit gefährdet. Es spricht einiges dagegen, aber selbst wenn, könnte man sich den bekannten Ursachen widmen. Doch statt das Lebensmittelrecht zu ändern, investiert das Ministerium in wissenschaftlich basierten Unfug: Ein Ernährungsführerschein soll das Problem lösen. Wer dick bleibt, ist selbst Schuld.

An derlei Interpretationen ist auch die Wissenschaft beteiligt. Weite Teile der Forschung arbeiten den Interessen zu. Gerade in der Pharma- oder in der Ernährungsforschung, wo man nicht nur selektiv in die Datenkiste greift, sondern auch selektiv Wissen produzieren lässt. Der Begriff der Wissensgesellschaft mag da an sich ökonomischen Charakter haben, aber als Fundament eines menschlichen, der Welt zugewandten Fortschritts kommt Wissen so immer seltener zum Zug. Es muss lukrativ sein, „anwendungsorientiert“ – was nüchtern klingt, aber ideologisch ist. Die Folgen betreffen vor allem sozial sensible Bereiche.

So gesehen war Sarrazin ein Glücksfall: Am Ende wird der Mann unserer Gesellschaft mit dieser Farce sogar einen Dienst erweisen, weil nun endlich über sozialverträgliche Lösungen der Integrations­problematik nachgedacht wird, aber niemand – so steht zu hoffen! – mehr ernsthaft über erblich verankerte Denkschwächen von Minderheiten nachdenkt.

Von weit größerer Tragweite bleibt aber jener penetrante Missbrauch von Wissen, der sich in unserer Mitte ohne jeden Widerspruch etabliert. In vielen Fällen steckt nicht einmal böse Absicht dahinter. Was fehlt, ist das Bewusstsein über den Schaden, der sich mit scheinbar selbsterklärenden Fakten und Fragmenten anrichten lässt. Und gerade wenn jetzt wieder mehr über Integration gesprochen wird: Nicht nur Menschen müssen integriert werden, damit das Miteinander einen Sinn ergibt. Auch Wissen braucht Integration. Sonst werfen wir uns selbst zurück.

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Geschrieben von

Kathrin Zinkant

Dinosaurier auf der Venus

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