Blackbox Erbgut: Wenn die Genetik über alte Leute stolpert

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Centenarians führen ein stressiges Leben, glaube ich. Ständig klopfen Forscher an die Tür und wollen rausfinden, warum die Hundertährigen so alt - oder noch älter! - geworden sind. Ist es die Ernährung? Das Familiengefüge? Der Wohnort? Die Gelassenheit? Ist alles schonmal untersucht worden, Analyse von Koch- bis Nachttopf, mit eher mehr denn weniger bescheidenen Resultaten, versteht sich. Denn eigentlich wussten wir doch immer, dass Oma schon vor 30 Jahren eine prinzipielle Wahrheit aussprach, als sie sagte: "Der Vater hat ja auch lang gelebt. Dessen Mutter auch. Das liegt wohl in der Familie."

Viel mehr Substanz hat leider auch Science Omas Worten nicht beizusteuern. Das renommiert genannte Wissenschaftsmagazin präsentiert in seiner Express Ausgabe eine Studie über die genetische Signatur von Centenarians. Mit Telekonferenz, Podcast und all dem anderen Schnickschnack, der für eine erfolgreiche Verbreitung von sogenannten wissenschaftlichen Meilensteinen - alternativ: Durchbrüchen - offenkundig nötig ist, weil die Presse nicht mehr eigenständig arbeiten möchte. Das Resultat der aufgedrängten Arbeit lautet jedenfalls: Ein langes Leben ist teilweise genetisch festgeschrieben, also erblich. Mit anderen Worten: Es liegt wohl in der Familie.

Um das herauszufinden haben die Wissenschaftler - im Gegensatz zu Oma - natürlich richtig großen Aufwand betrieben. Rund 1000 sehr alte Menschen und 1200 nicht so alte Verwandte wurden untersucht, beziehungsweise ihr Blut wurde analysiert, und das darin enthaltene Erbgut. Das ist nun wiederum ganz schön groß, das Erbgut, und weil man es für so eine stattliche Gruppe nicht jeweils komplett auslesen kann ("sequenzieren"), haben die Forscher nach bestimmten bekannten Markierungen ("Single nucleotide polymorphisms", kurz SNPs) in der großen DNA gesucht, die typisch sind für bestimmte Bereiche im genetischen Bauplan. Solche genome wide association studies sind ziemlich verbreitet in der heutigen Forschung, meistens sucht man mit ihrer Hilfe nach bestimmten Genvarianten, die krank machen.

Was man dabei rauskriegt ist allerdings nicht: SNP x verweist auf Gen y und das hat den Effekt z. Sondern: SNP x tritt häufig gemeinsam mit Effekt z auf, deshalb muss das Gen y (es können auch mehrere Gene y sein) irgendwie mit SNP x gekoppelt sein. Wenn man nun feststellt, dass sehr viele SNPs mit der Eigenschaft z gekoppelt sind, und die Eigenschaft z, hier: das Altern, in sich ziemlich komplex ist, also von vielen verschiedenen, unbekannten Genen und noch mehr anderen Einflüssen abhängt, kann man im Grunde wenig mehr daraus ableiten als: Naja. Es gibt mehr als 150 Markierungen, die mit einem langen Leben zusammenhängen. Irgendwie. Genetisch.

Den Nutzwert dieser vagen Assoziation präsentieren die Forscher übrigens höchstselbst: Demnächst wollen Sie einen Genchip rausbringen, auf den man nur einen Tropfen Blut geben muss und dann erfährt man, ob man ein langes Leben zu erwarten hat, sofern man nicht von einem Auto überrollt wird.

Ich finde das ja gut. So ein Leben lässt sich doch viel besser planen, wenn man nur weiß, wie lange man sich damit überhaupt zu befassen hat. Ein bisschen erinnert mich das an den Menopausetest, den andere Forscher neulich vorgestellt haben. Da geht es aber nur um die vier letzten Jahre vor den Wechseljahren, und um die Frage, ob man noch schnell ein Kind in die Welt setzt. Trotzdem unheimlich nützlich.

Nicht so gut finde ich, dass die Gewissheit, mit der die SNPs im vorliegenden Fall tatsächlich ein langes Leben vorhersagen, weniger als 80 Prozent beträgt. Da fehlt was. Mehr als 20 Prozent! Ungewissheit, die aus den 80 Prozent Gewissheit wieder Ungewissheit macht, weil es ja nicht wirklich unwahrscheinlich ist, dass man doch innerhalb der 20 Prozent spekuliert. Ich will also Gewissheit, und kriege ganz gewiss genau das nicht. Sondern Ungewissheit.

Ok. Damit lebt der Mensch nun seit ein paar Jahrhunderttausenden und wird trotzdem immer älter. Vergessen wir also den Chip. Das eigentlich interessante – ja: sensationelle! – an der Studie ist ohnehin nicht das hohe Alter an sich. Die Forscher konnten in ihren ultragreisen Probanden nämlich auch Gene nachweisen, die üblicherweise mit einem hohen Krankheits-Risiko verknüpft sind, sich aber offenbar nicht durchsetzen konnten. Aus welchen Gründen auch immer. Man weiß es nicht. Und das wiederum bedeutet: Tests, die genetisch bedingte Leiden vorhersagen, können verdammt in die Irre führen. Weil diese Leiden unter Umständen gar nicht zu Tage treten.

Darf man auf Gentests also Präventionsmodelle aufbauen? Muss man das alles neu denken? Hat am Ende ausgerechnet Craig Venter recht? Der Mann, der das menschliche Genom entzifferte und das Erbgut eines Bakteriums nachgebaut hat, sagt nämlich im Spiegel, dass Gene uns überhaupt nichts erzählen können. Und wenn diese Studie an alten Menschen etwas beweist, dann: genau das.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Kathrin Zinkant

Dinosaurier auf der Venus

Kathrin Zinkant

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