Das Prinzip Mythos

Diagnose: Mensch Das Wissen ist ein flüchtig Wesen, der Glaube eher penetrant: Wie die Fantasie zum Motor und zur Gefahr für die Forschung wird

Die Vokabel Wissensgesellschaft hat definitiv zwei hinterhältige Tücken: Zum einen spiegelt sie, was nicht ist – eine enge Verknüpfung von Wissenschaft und Gesellschaft im konzertierten Streben nach gerecht verteiltem Fortschritt. Zum anderen impliziert sie, was sehr wahrscheinlich niemals sein wird: Dass der Mensch nämlich das allermeiste schon wisse, dass er seine Entscheidungen deshalb heute auf dem festen Fundament des Wissens treffe und dass man sich im Grunde nur noch mit ein paar Fein­heiten herumzuschlagen habe.

Aber mal ganz abgesehen davon, dass Feinheiten wie ein wenige Nanosekunden zu hurtig durchs Erdreich eilendes Neutrino das komplette Wissenskartenhaus der modernen Physik zu Fall zu bringen droht, dass mit Feinheiten von zwei Grad Celsius mehr oder weniger alle wissenschaftlichen Projektionen zum Klimawandel infrage gestellt werden können und dass der schmale Grat zwischen Leben und Tod je nach reli­giöser, politischer oder medizinischer Auffasung eine lebensrettende Organspende ermöglichen oder ver­hindern soll: Möglicherweise möchte der Mensch gar nicht immer wissen, sondern bisweilen nur erfahren, was er schon immer geglaubt hat?

Zum Beispiel, wenn es um Leben im All geht. Die Spuren, die für gemeinhin als lebendig bezeichnete Strukturen in den Weiten des Weltraums sprechen, sind ziemlich blass, außer ein paar potenziellen Bausteinen, genauer gesagt organischen Molekülen, hat man da bislang nichts gefunden. Und was immer die Marssonde Curiosity aus dem Staub des roten Planten buddelt, wenn sie im kommenden August landet und nach Leben sucht – es dürfte vor allem die schwer zu beantwortende Frage aufwerfen, ob da nicht ein paar blinde Passagiere von der Erde mit an Bord der Atlasrakete gingen – vor dem Start war laut space.com eine unsterile Bohrspitze am Roboterarm von Curiosity angebracht und nicht mehr entkeimt worden. Wissen impossible.

Ein paar Billiarden – etwa 6 mal 1015 – Kilometer weiter weg sind die Perspektiven schon wieder rosiger: Kepler 22, eine Sonne von ähnlicher Gestalt wie die hiesige, nur etwas kleiner und nicht ganz so heiß, wie man bereits weiß, wird von einem Planeten umkreist, und zwar auf einer Umlaufbahn in der sogenannten habitablen Zone. Was gemütlich klingt, aber nur den Bereich eines Sonnensystems meint, in dem möglicherweise vorhandenes Wasser auf möglicherweise vorhandenen Planeten weder gefroren noch Dampf ist, sondern flüssig, was für die Existenz von Leben, wie der Mensch es kennt und definiert, eine grundlegende Voraussetzung ist. Für besagten Planeten ist diese Vor­aussetzung erfüllt, und deshalb wird er von Spiegel Online auch schon als erwiesenermaßen bewohnbarer „Zwilling unseres Planeten“ gefeiert. Solange niemand weiß, ob dieser Planet überhaupt einen festen Boden besitzt oder ob er vielleicht doch nur ein großes Gasmonster ist wie Erdennachbar Jupiter, so lange kann man das ja erstmal so hinschreiben und der Fantasie freien Lauf lassen. Macht Freude und ergibt sogar einen tieferen Sinn: denn ohne Fantasie keine Neugier, ohne Neugier keine Forschung, ohne Forschung auch kein Wissen.

Problematisch wird es aber, wenn solche Ideen ganz beiläufig zu etwas gerinnen, was wie Wissen erscheint, aber keines ist und trotzdem zum Fundament gesellschaftlicher Anschauungen wird. Dazu braucht es nicht einmal die Weite des Weltalls, es reicht schon die Verborgenheit des weiblichen Schoßes. Dass dessen Unberührtheit sich anatomisch in einem verletzlichen Hymen manifestiere (siehe Artikel rechts), galt jahrtausendelang als nützliche Tatsache. Leider wollte es bis heute keiner genauer wissen.


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Geschrieben von

Kathrin Zinkant

Dinosaurier auf der Venus

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