Neuro-Autorität In der Debatte um den freien Willen geht es immer auch um die Frage, ob man Wahnsinn und Schuld neu definieren muss – wenn das Gehirn allein entscheidet
Manchmal verändert ein Knopfdruck die Welt. Und viel mehr brauchte auch Benjamin Libet nicht, um 1983 zumindest die Welt in den Köpfen der Menschen zu ändern. Und tatsächlich machte eine halbe Sekunde den ganzen Unterschied.
Im berühmten Experiment des Forschers sollten Testpersonen zu einem selbst gewählten Zeitpunkt einen Knopf drücken. Dabei wurden ihre Hirnströme gemessen. Wie erwartet gab es drei Phasen: Die Entscheidung. Die Aktivierung des Gehirns durch das sogenannte Bereitschaftspotenzial. Und die Bewegung selbst. Ein Schock nicht zuletzt für den Experimentator selbst war allerdings die Reihenfolge, in der sich das alles fügte. Nicht nachdem, sondern bevor sich die Probanden entschieden hatten, loszulegen, wurde das Gehirn aktiv. Ei
aktiv. Ein Vorsprung von 500 Millisekunden, der zeigte, dass das Hirn der Probanden einfach früher Bescheid wusste als die Probanden selbst. Genaugenommen sah es so aus, als habe das Gehirn entschieden – nicht der Mensch.Die Debatte darüber, ob der menschliche Wille nach diesen Ergebnissen noch als frei gesehen werden kann, nahm erst gut 20 Jahre nach Libets Experiment Fahrt auf, als das Feuilleton der FAZ eine Flut von Aufsätzen und Gesprächen zum Thema publizierte. Die Oberhand in diesem Diskurs gewannen schließlich der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth und der Frankfurter Neurophysiologe Wolf Singer. Beide zeigen sich bis heute überzeugt, dass der freie Wille Illusion sein muss. Singer resümierte damals: „Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen“.Das Gehirn befiehltAber wovon sollten wir stattdessen sprechen? Was bedeutet der Verlust der Willensfreiheit für die Bewertung von Taten – und Straftaten? Ein Jahrhundertprozess wie um Anders Breivik, der in Oslo gerade mit den Plädoyers zu Ende gegangen ist und nun der Urteilsverkündung harrt, wäre ohne den freien Willen kaum denkbar, weil sich niemand mehr für seine Taten verantworten müsse. Das Gehirn befiehlt, der Körper marschiert, und an dem, was dann passiert, ist nicht der Mensch schuld, sondern sein Gehirn.Man kennt solche Fälle aus dem geltenden Recht, wenn Angeklagte durch äußere Umstände, eine Verletzung des Gehirns oder eine schwere psychische Erkrankung nicht in der Lage waren, sich frei gegen ihre Tat zu entscheiden. Wäre der freie Wille eine Illusion, beträfe es alle Täter, sofern man Sklaven der eigenen Hirnströme Täter nennen kann.Dass die emotionale und moralische Integrität eines Menschen von der Unversehrtheit seines Gehirns abhängen können, ahntman spätestens seit Phineas Gage: 1848 trieb eine Explosion dem Eisenbahnvorarbeiter eine drei Zentimeter dicke Eisenstange seitlich durch Oberkiefer und den vorderen Schädel. Gage, ein intelligenter, hochanständiger Mann, überlebte und erschien geistig unversehrt. Sprache, Gedächtnis und Intellekt wirkten normal, er hatte während des Unfalls nicht einmal das Bewusstsein verloren.Gestörtes UrteilsvermögenBald allerdings wurde klar, dass er etwas anderes verloren hatte: Jede Form von Respekt und Benehmen. Gesellschaftliche Konventionen bedeuteten ihm plötzlich nichts mehr, er zeigte sich launisch, unzuverlässig und wurde schließlich entlassen.1868, acht Jahre nach Gages Tod und zu einer Zeit, als man Areale im Hirn mit bestimmten Funktionen wie Sprache in Verbindung brachte, äußerte Gages Arzt John Harlow die Vermutung, dass die verletzte Hirnregion schuld war an Gages Transformation. Das hätte geheißen: Auch höhere „Funktionen“ der menschlichen Intelligenz wie kooperatives Verhalten und emotionale Kontrolle waren nicht gottgegeben, sondern in organischen Strukturen verankert. Harlow ließ den Schädel exhumieren, konnte seinen Verdacht mit den damaligen Methoden allerdings nicht beweisen.Erst 1994 rekonstruierte das portugiesische Neurowissenschaftlerehepaar António und Hanna Damásio die Hirnverletzungen Gages mithilfe des Schädels. Gages Verletzung ähnelte tatsächlich jenen von einem Dutzend Patienten, bei denen das persönliche und soziale Urteilsvermögen schwer gestört war – nicht aber das logische Denken.Dünnes NervenkostümDie neurowissenschaftliche Literatur ist mittlerweile voll von solchen Fällen: Väter, die durch einen Tumor im Hirn zu Pädophilen werden und sich an den eigenen Kindern vergehe n. Männer, die nach einer Kopfverletzung ein Leben ohne einen Funken Verantwortung führen und auch morden. Und es gibt zahllose Untersuchungen, die auch in scheinbar gesunden Täterhirnen Abweichungen von einer Norm finden: Der amerikanische Neurowissenschaftler Adrian Raine etwa konnte zeigen, dass das Hirn hinter der Stirn von Asozialen und Aggressiven eher dünn mit Nervenzellen bestückt ist.Intelligente und zugleich sozial desinteressierte Menschen mit einem erheblichen Mangel an Empathie sind zwar generell häufig in der gegenwärtigen Gesellschaftsform, im Großen und Ganzen halten sich diese Leute aber an überkommene Konventionen: Sie morden, vergewaltigen und quälen nicht.Die Frage, ob ein abnormer präfrontaler Cortex zwingend ins moralische Verderben führt, muss man nach derzeitigem Wissensstand klar verneinen. Dennoch zeigen Gewaltverbrecher eine ähnliche Entkopplung ihrer Ratio, wie sie bei Phineas Gage zu beobachten war.Breivik in der RöhreDer Sozialneurowissenschaftler Stefan Schleim, der an der Uni Groningen die ethischen Implikationen der Hirnforschung ergründet, weist darauf hin, dass man mithilfe von Bildern aus dem Magnetresonanztomografen zwar das Menschenbild neu zu formen suche, aber mit diesem Mittel noch immer nicht in der Lage sei, auch nur eine einzige psychiatrische Erkrankung zu diagnostizieren. Man hätte auch Breivik sonst nur in eine Röhre schieben müssen. Aber hat sich Breivik aus freien Stücken für seine Tat entschieden? Libets Experiment ist oft wiederholt, erweitert und bestätigt worden – bisher zum Glück noch folgenlos.Die lebensweltliche Realität lässt Schleim zufolge ohnehin keine Zweifel an der Freiheit des Willens zu. Sofern diese Freiheit sich auf ein soziales Fundament stützt. Man kann also darüber grübeln, welche Rolle Menschen wie Anders Breivik in anderen Zeiten gespielt hätten oder spielen würden. Der Kontext ist hier und heute die Frage, ob jemand, der aus radikalen Fantasien heraus kaltblütig 77 Menschen erschießt, krank ist, beantwortet spätestens im August das Gericht. Was der Einzelne unter krank versteht, obliegt bis auf Weiteres seinem freien Willen.
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