Der breite Grat zwischen Sucht und Prävention

Diagnose: Mensch Wer trinkt, lebt gesund und gefährdet seine Gesundheit. Über ein Paradox, dass längst kein französisches mehr ist

Den eigenen Alkoholkonsum zu rechtfertigen, ist keine exklusive Herausforderung an den modernen Menschen: Die alten Germanen soffen sich besonders gern zu politischen Verhandlungsanlässen gegenseitig unter die Eichentische, weil im Vollrausch eben nicht nur alle Frauen schön sind, sondern auch alle Worte wahr gesprochen werden. Hieß es.

Lateinisch wird dergleichen auch heute noch geunkt: in vino veritas! Und das nicht nur zur Pulle Wein. Aber klammheimlich hat sich die Prämisse geändert. Wahrheit ist heute nämlich nicht in erster Linie als das Gegenteil von Lüge, und somit als etwas Belegbares zu verstehen, sondern: Wahr im Wein der Moderne ist das, was der Gesundheit beim Gesundbleiben hilft. Was gut klingt, aber im Fall von Alkohol ja doch perfide ist, denn Alkohol kann süchtig machen, Familien zerstören, bisweilen tötet er auch. 4,16 Promille Ethanol brachten, wie man vergangene Woche erfahren musste, die Sängerin Amy Winehouse um – eine nur scheinbar unvorstellbare Menge, die mit zweieinhalb Flaschen Wodka von einer Frau flink erreicht ist.

Mit zweieinhalb Flaschen Wein hingegen nicht so leicht, mit einem Glas schon gar nicht, und hier offenbart sich die Verzwicktheit aller Trinkerei: Im Gegensatz zum Rauchen, dem man, egal in welchen Dosen, noch keinen gesundheitlichen Nutzen nachweisen konnte (außer, dass Nikotinpflaster bei, nun ja, Kindern die Symptome eines Tourette-Syndroms lindern sollen), gilt der sogenannte „moderate Konsum“ von Alkohol als nachgerade präventives Rundumgeschoss. Hält das Herz auf Trab, macht die Gefäße elastisch, schützt womöglich sogar vor Krebs, verlängert – man nannte es einst französisches Paradox – unterm Strich auf jeden Fall das Leben. Fast wie Sport.

Es ist wie mit dem Essen

Was einen quasi zum Trinken nötigt, denn Abstinenz als Gesundheitscredo zählt ja nicht mehr. Und deshalb erscheint der Grat, auf dem man mit dem Glas Wahrheit wandelt, doch irgendwie schmal, wenn auf importierten Weinflaschen recht Deprimierendes zu lesen ist: Im Dienste der Prävention schenkt sich die Frau aus der vollen Flasche bitte nicht mehr als 140 bis 210 Milliliter ein, der Mann darf nochmal 70 Milliliter nachschütten. Pro Tag, wohlgemerkt. Die britische Gesundheitsbehörde empfiehlt es so seit 1999 ihren trinkfreudigen Bürgern, wenige Jahre später wurde die Sperrstunde aufgehoben – nicht etwa, damit die Briten doch wieder mehr, sondern damit sie langsamer tränken. Was nicht ganz hingehauen hat, wie die folgenden Jahre zeigten: Die Zahl alkoholbedingter Klinikeinweisungen verdoppelte sich umgehend. Vielleicht, weil der besagte Grat dem Trinkenden seitlich des Gesundheitsmythos’ eher ausladend breit erscheint. Und in seiner Breite auch noch modulierbar – durch Gewöhnung, Sport, viel Wasser zwischendurch und die gute Grundlage vorher. Kann je nach Tagesform, Geschlecht und Körperbau auch funktionieren.

Doch abgesehen vom Kater, den man als gerechte Strafe überlebt, bleibt die eigentlich heikle Grenze nebulös: Ab wann wird Alkohol nun wirklich schädlich? Erzeugt Krebs, schädigt Herz und Gefäße, macht abhängig – bringt einen gar direkt um? Es gibt Daten aus der Epidemiologie, aber sicher sagen kann es keiner. Es ist im Grunde wie mit dem Essen, von dem auch keiner sagen kann, ab wann es dick macht, selbst wenn das nun auch deutsche Etiketten verklickern wollen: 2000 Kalorien am Tag, dann bleibt Frau in Form. Braucht sie weniger, hat sie Pech gehabt und wenig Sinn für ihren Körper.

Die wahre Wahrheit lautet deshalb: Ist die Flasche erstmal offen, wird sie meist auch leergemacht. Was nicht gesund sein muss, aber durchaus schön sein kann – solange es denn wirklich schmeckt.

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Geschrieben von

Kathrin Zinkant

Dinosaurier auf der Venus

Kathrin Zinkant

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