Es ist schon blöd, wenn einen die Realität immer wieder einholt, vor allem, wenn es um etwas geht, das man täglich tut und dabei doch täglich verdrängt. Also: essen. Vor wenigen Wochen erfuhren die Leser eines britischen Wissenschaftsmagazins, dass Alzheimer, jene kommende Geißel unserer alternden Gesellschaft, eine Folge des westlichen Ernährungsstils sein könnte – als eine dritte, bislang unbekannte Form der Zuckerkrankheit Diabetes. Doch selbst wenn sich diese gewagte und höchst gruselige Vermutung in medizinischer Hinsicht als irrig erweisen sollte (was relativ unwahrscheinlich ist): In einem umfassenderen, übertragenen Sinn lässt sich die Diagnose „Verblödet durchs Essen“ längst stellen.
Sie betrifft dabei keinesfalls ausschießlich oder zuerst die armen Schlucker, die zu schlecht gebildet sind oder zu wenig Geld haben, um zu den vermeintlich gesunden, korrekten Lebensmitteln zu greifen, und die deshalb dick und zuckerkrank werden. Betroffen von ernährungsbedingter Verblödung sind in den westlichen Gesellschaften mittlerweile alle Schichten und alle Bereiche, die mit der Nahrungsproduktion und -aufnahme zusammenhängen.
Profitable Produktion
Wie kann das sein? Nie zuvor in der Geschichte wusste der Mensch, wussten wir mehr über unsere Nahrung als heute. Über die Bausteine und -steinchen, über körperliche Nährstoffbedürfnisse und die vielen komplexen Vorgänge der Nahrungsphysiologie. Dieses Wissen ist die Errungenschaft von gut 130 Jahren Forschung, angefangen mit den Arbeiten des Chemikers Justus von Liebig, der solche Bausteine erstmals beschrieb. Man könnte es als Fortschritt betrachten, wäre dieses Wissen nicht gleichzeitig auch die unfreiwillige Wurzel aller das Essen betreffenden Verdummungen.
Vor lauter Bausteinchen-Betrachterei ist der Blick aufs Essen selbst verloren gegangen. Nahrung, egal ob Biokost oder Fastfood, lässt sich mehr oder weniger als Vehikel für Nährstoffe beschreiben, und die sind im Wesentlichen: Eiweiß, zwei Sorten Fett (gesättigte und ungesättigte Fettsäuren), Kohlenhydrate (unter besonderer Berücksichtigung von „Zucker“), ein paar prominente Vitamine und Mineralien und als Nachschlag auch noch Salz. Ein halbes Dutzend Nährstoffe reichen, damit wir Essen und seine Qualität heute beschreiben, wissenschaftlich zuerst, gesundheitspolitisch auch, aber infolgedessen vor allem kommerziell. Denn diese bausteinhaften Nährstoff-Äquivalente haben Vorteile für eine profitable Produktion. Sie lassen sich leichter beschaffen, lagern und maschinell handhaben als genuine Zutaten.
Das Ergebnis aber ist, dass unser Essen eine stupide Wiederholung des ewig Selben ist, in variabler Zusammensetzung und Verpackung zwar, aber unterm Strich aus den immer gleichen industriellen Grundstoffen zusammengerührt. Unsere Lebensmittel sind dann nach den oben genannten Kriterin nahrhaft, mit Nahrung aber pflegen sie nur noch eine ferne chemische Verwandtschaft.
15 Mal Pizza
Gewonnen werden diese Grundstoffe aus den drei Monokulturen Soja, Mais und Weizen. Ergänzt werden sie durch Produkte aus der Mono-Mästerei von Schwein, Huhn und Rind sowie aus den Großmolkerei- und Legefabriken. Vielfalt entsteht hier nur noch durch mehr als 300 Zusatzstoffe, von denen selbst in Bioprodukten gut 50 erlaubt sind.
Auf diese Grundsteine der Verblödung bauend, findet man in den Zutatenlisten industriell verarbeiteter Lebensmittel dann Zucker, immer häufiger aber konzentrierten Zuckersirup aus Mais, dazu das übliche Pflanzenfett, Milcheiweiß, Trockenei, modifizierte Stärke sowie diverse Emulgatoren und – sehr beliebt – Verdickungsmittel oder Stabilisatoren.
Aus dieser Einfalt werden dann zum Beispiel 15 Pizza-Fabrikate geboren, es entsteht eine scheinbare Vielfalt, aus der der Konsument sich dann jene aussuchen kann, von der er glaubt, dass sie ihm die liebste ist. Damit aber nimmt die kulturelle Verblödung ihren Anfang: Was könnte man nicht noch alles mit Tomaten, Käse, Salami anfangen oder mit dem Fleisch, aus dem Formschinken gepresst wird? Kaum etwas ist kulturell so stark geprägt wie die Zubereitung von Essen. Diese Kultur findet ihr Ende, wenn man die Vielfalt von Nahrung weder erfährt, noch zu nutzen weiß. Kochbücher werden zwar immer noch mit Freude gekauft, offenkundig aber vor allem deshalb, weil man im Zweifelsfall gar nicht wüsste, wie man selbst noch unverarbeitete Nahrung verarbeiten sollte.
Krank durchs Futter
Die Nationale Verzehrsstudie hat vor vier Jahren festgestellt, dass sich jeder zweite Deutsche (per Selbsteinschätzung) für einen guten Koch hält. Versäumt wurde zu erkunden, wie oft diese guten Köche ihr Essen tatsächlich noch aus rohen Zutaten herstellen, und ob es außer zum abgefragten Pfannkuchen oder Auflauf auch zur Herstellung einer Suppe, eines Brotteigs oder einer Salatsoße reicht – bei der man dann genau wüsste, was drin ist. Und sicher etwas anderes hinein täte als das, was die Hersteller in ihre Fertigware packen.
Etwa 80 Prozent aller Lebensmittel, die im üblichen Supermarkt angeboten werden, sind industriell verarbeitet. Und die meisten von ihnen enthalten Substanzen, die in großem Stil aus einem der wenigen Grundagrarstoffe gewonnen werden. Sogar Fleisch geht, wenn man die Nahrungskette zurückverfolgt, inzwischen auf Mais zurück – obwohl Rinder dieses Futter eigentlich gar nicht vertragen. Es macht sie krank. Aber da teilt das Tier längst das Schicksal jener, für die der ganze Aufwand betrieben wird.
Gut zwei Millionen Jahre hat die Evolution benötigt, um den Menschen zu einem beispiellosen Allesfresser zu formen, der in jeder noch so prekären Situation Nahrung findet. Wurzeln, Blätter, Samen, Früchte, Insekten, Wirbellose, Fische, Wild und Vögel samt deren Gelege – das Spektrum dessen, was wir sinnstiftend verwerten können, ist enorm. Das meiste, was wir infolge einer nährstoffzentrierten Betrachtung und ihrer industriellen Umsetzung heute essen, gehört allerdings nicht dazu. Unser Körper kann mit prozessgeborenen Kohlenhydraten und Fetten nichts – oder in diesen Mengen nichts – anfangen, außer sie in den überforderten Stoffwechsel zu zwingen und sich selbst allmählich zu vergiften.
Gesund, egal wie
Man könnte auf weitere Evolution setzen. Aber eine Anpassung ist ausgeschlossen, weil das alles viel zu schnell geht. Wir sind immer noch Jäger und Sammler, und man könnte eher davon profitieren, wenn die Vielfalt, die uns prinzipiell zur Verfügung steht, genutzt würde. Nicht durch die Rückkehr zum Palaö-Speiseplan – der war umweltbedingt eher einseitig. Sondern durch Food-Hopping durch das ganze Nahrungsspektrum, das ein anderer Fortschritt uns eröffnen könnte.
Das Thema, das sich die Verbraucher anstelle von Vielfalt haben aufschwatzen lassen, ist Gesundheit. Essen muss gesund sein, egal wie, und wieder kommt die stupide Betrachtung von Nährstoffbausteinen ins Spiel, die genau das angeblich gewährleisten. Da sind die Hauptnährstoffe durch ihre korrekte Zusammensetzung, wobei in stetem Wechsel immer mal einer in Ungnade fällt und zum Sündenbock für alle Leiden erklärt wird, die uns das Industriefutter beschert.
Derzeit ist es „der Zucker“, der dem Spiegel zufolge wie eine „Droge“ wirkt. Wenn man den Experten aber auf den Zahn fühlt, bleibt es nie bei der Verteufelung des einen Stoffs – es käme ja eher darauf an, dass man sich vielseitig ernähre! Im Streben danach muss man aber offensichtlich weitere Nährstoffe finden. Kleine Extranährstöffchen, die entdeckt, an Zellen ausgetestet und vorschnell zum neuen Heilsbringer erklärt werden, um wiederum den Genuss bestimmter Lebensmittel zu legitimieren – egal, wie diese Lebensmittel zustande kommen, weil sie ja letztlich nur Vehikel sind. Die Verblödung, die durch diese Betrachtungsweise vorangetrieben wird, bezeichnet der amerikanische Wissenschaftsautor Michael Pollan in seinem Buch In Defense of Food, als „Nutritionism“.
Dumm nur, dass kein Nährstoff lange hält, was er verspricht, weil man immer die Nahrung drumherum vergisst. In was hat man nicht alles Ballaststoffe gestopft, in Frühstücksflocken, in Joghurts, weil sie vom Ballast der Darmkrebsangst zu befreien versprachen. Bis man feststellte, dass nicht Ballaststoffe allein, sondern nur Nahrung mit natürlichem Gehalt daran das Risiko minimal mindern. Minimal, wohlgemerkt, denn die Funktion von Essen ist nun mal keine medizinische, sondern schlicht die der Versorgung. Trotzdem ging und geht es immer weiter, mit Vitamin E, mit Omega-Fettsäuren, dem ganzen Apothekenschrank der Lebensmittelkunde, während die Industrie die Monokulturalisierung des Essens ungestört fortsetzt. Im Übrigen auch auf dem Biosektor, dessen Produkte sich kaum noch von konventionellen unterscheiden, wie gerade erneut von Forschern aus Stanford resümiert wurde. Was aber nichts daran ändert, dass der Bildungsbürger wie ein Schaf in die Ökomärkte hoppelt, um gesündere, bessere Nahrung einzukaufen.
Braucht man da wirklich noch den Alzheimer, um beim Essen um des Menschen Verstand zu fürchten? Der ist ja längst dahin, wenn noch einer wirklich glaubt, die Straße industrieller Nahrungsverfremdung führe den Menschen noch irgendwo anders hin als in die Degeneration.
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