Essbare Neurose

Diagnose: Mensch Die Hirnforschung macht auch vor der hohen Küche nicht halt. Über die Transformation des Geschmacks in der Moderne

Dass Essen ein in hohem Maße sinnliches Ereignis und auf sehr geheimnisvolle Weise mit der seelischen Verfasstheit eines jeden Menschen verknüpft ist, dürfte zum Erfahrungsschatz („Liebe geht durch den Magen“) jeder kochkompetenten Großmutter gehören. Was allerdings auch Omi nie geahnt hätte: Wie schlimm es eines Tages nochmal kommen würde mit dem Essen und der Seele. Die Sinnesphysiologie nämlich ist – wie die etwas jüngere biologische Seelenforschung – ein Feld, das sich grob der Neurowissenschaft zuordnen lässt. Und als solches war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Ära der „Neurocuisine“ anbrechen würde.

Zweimal in Folge ist das Mekka dieser neuen Gastronomie, das Noma in Kopenhagen, nun schon zur Nummer eins der „San Pellegrino World’s 50 Best Restaurants“ erkoren worden, berichtete ausführlich jüngst die Zeit. Was zunächst einmal etwas über den Einfluss der Mineralwasserindustrie auf die Ausrichtung moderner Kochkunst aussagt. Aber auch über den auf Hirnchemie und Geschmackserregungs­leitungsmechanik gebauten neuesten Schrei der Gastronomie, der so gerne rausfinden will, warum manches Essen schmeckt und anderes nicht.

Und der in guter Tradition steht: Über viele Jahre erntete die sogenannte „Molekulare Küche“ mit ihrem Experimentierbaukastensyndrom Ovationen und Auszeichnungen der Gourmet-Eliten, ohne dass sich jemals einer darüber Ge­danken gemacht hätte, wie sinnentleert allein der Name ist. Molekular war und bleibt schließlich alles, was man essen kann und was durch Zubereitung Veränderung erfährt, gerade in gusta­torischer Hinsicht, wobei die Ent­­deckung der Maillard-Reaktion – als dem geschmacklich relevantesten aller chemischen Bräunungsprozesse von Pommes über Brathähnchen bis hin zur Schrippe – in diesem Jahr übrigens ihr hundertjähriges Jubiläum feiert.

Pathologischer Wirbel

Die neurologische Geschmacksforschung reicht ähnlich weit zurück, bis hin zur Entdeckung der sagenumwobenen Geschmacksqualität „umami“ im Jahr 1908, obschon die biochemischen Prozesse, die sich hinter umami, salzig, bitter, süß und sauer verbergen, erst in den vergangenen Jahrzehnten größere Durchdringung erfahren haben. Und dann ist da ja noch das rätselhafte menschliche Gehirn, das zu verstehen eines Tages gewiss von Nutzen sein dürfte – vor allem, um herauszu­kriegen, warum der Mensch einen so zunehmend pathologischen pseudowissenschaftlichen Wirbel um das grund­legende Bedürfnis des Essens macht. Ohne sich darüber auch nur ansatzweise im Klaren zu sein.

Offenbart hat sich das Vollbild dieser Neurose jetzt auch wieder auf einer Messe in Wiesbaden, die man als archetypisch für moderne Lebensmittel­messen betrachten muss, gerade weil sie den vermeintlich naturalistischen Trend weg vom Fleisch mit absurden Würstchenimitaten pflastert, deren Natürlichkeit ungefähr der von rosa Marshmallows mit Salamigeschmack entsprechen dürfte.

Was ja interessante Parallelen zur Neurocuisine enthüllt, weil es auch hier nicht zuerst um die Frage geht, ob ein Nahrungsmittel schmeckt, was ziemlich einfach festzustellen wäre. Sondern darum, wie man es schafft, über die Geschmacksnerven des Konsumenten eine gezielte Illusion zu erzeugen. Auch ohne echte Nahrung, wie man es von der großindustriellen Fertignahrung gewohnt ist. Weshalb im Gyros nicht mehr Fleisch, sondern das Glutamat aus beigefügtem Hefeextrakt den Umami-Gaumen erfreuen muss. „Freilaufender Tofu“, wie die FAZ ihren Bericht über die Veggieworld 2012 am Montag ankündigte, trifft es deshalb nur fast. „Freilaufender Wahnsinn“ wäre bloß nicht so witzig gewesen.


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Geschrieben von

Kathrin Zinkant

Dinosaurier auf der Venus

Kathrin Zinkant

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