Grandioses Trugbild

Forensik Kann die Neurobiologie der Justiz helfen, zwischen Wahnsinn und Schuld zu unterscheiden? Ein Gespräch mit der Psychiaterin Heidi Kastner

Der Freitag: Sie sprechen fast täglich mit Gewaltverbrechern, Mördern und Pädophilen. Was lernt man dabei über das Selbstverständnis des Menschen?

Heidi Kastner: Es ist wichtig, ob man sich als autonom handelnd erlebt. Oder ob man sich als ausgelieferter Mensch ohne größeren Einfluss sieht. Handeln tut man selbst. Aber wenn man die Verantwortung an ein ominöses Schicksal delegieren kann, muss man die eigenen Motive und Handlungen nicht hinterfragen.

Welches Schicksal zum Beispiel?

Oft höre ich: „Das war der Alkohol.“ Aber der war es nicht. An den wird nur die Verantwortung delegiert. Oder: Da ist „etwas ausgerastet“. Oder: „Es ist passiert.“ – Das ist die einfachste Form, sich nicht als Urheber der eigenen Tat zu erleben.

Was sagt das über die Person und ihre Absichten aus?

Wenn ich die Täter treffe, ist ihnen klar, dass sie eine Straftat begangen haben. „Es kam über mich“ zu sagen, ist eine von vielen Arten, sich aus der Verantwortung zu nehmen. Es ist nicht unwesentlich, wie man sich zu einer Tat positioniert. Innerlich zumindest.

Können psychisch Kranke ihre Taten überhaupt verantworten?

Wir gehen davon aus, dass ein Mensch, der unter einer seelischen Erkrankung leidet, nicht verantwortlich für sein Handeln ist. Seine Entscheidungsgrundlagen sind durch das Leiden verformt. Daher ist ihm auch keine freie Willensbildung mehr möglich.

Wie ist das im Fall von Anders Breivik? In seinem Prozess sind vergangene Woche die Plädoyers gesprochen worden.

Nachdem im Fall des Herrn Breivik die Staatsanwaltschaft gesagt hat, dass es begründete Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit gibt, muss man annehmen, auch wenn das Urteil nicht vorliegt, dass er nicht ganz frei und verantwortlich gehandelt hat.

Und das hieße?

Alle, die an einer psychischen Erkrankung leiden, die so ausgeprägt ist, dass sie die Sicht auf die Welt grundlegend verändert, sind nicht zur Verantwortung zu ziehen. Das Selbstverständnis ist durch die Krankheit ja auch verändert. Es ist halt alles krank. Das Selbstbild ist krank, die Sicht auf die Welt ist krank, es ist rundum alles jenseits des Normalzustandes.

Können Sie nachvollziehen, wenn die Öffentlichkeit Mörder oft für wahnsinnig hält?

Nachvollziehen: ja. Es ist aber nicht legitim, wenn man alles, was nicht normkonform und gesellschaftsförderlich ist, an ein Krankheitsattribut bindet. Das ist Missbrauch der Psychiatrie. Als Kain Abel erschlagen hat, war das nicht krank, sondern falsch. Die Geschichte wurde auch nicht als Krankengeschichte überliefert. Kain hat getan, was aus sehr selbstzentrierten Motiven das Naheliegendere war. Wir erwarten von den Menschen, mit denen wir zusammenleben, dass sie so etwas nicht tun, sondern sich am sozialen Kontext orien-tieren. Wenn jemand diese Regel verletzt, kann das eine ganz bewusste Entscheidung sein.

Aber das kann auch krank sein.

Das sind Entscheidungen, die jeder zu jedem Thema in jeder Form trifft. Das haben Sie bei jeder Geschwindigkeitsüberschreitung. Es gibt ein gesellschaftlich akzeptiertes Limit, aber das ist mir egal, weil ich jetzt schneller fahren will. Ich stelle mich über die Regeln, ich achte sie geringer als das, was ich will. Aber da sagt keiner: du bist krank – obwohl man damit den Tod anderer Menschen riskiert.

Das ist doch etwas anderes als ein Mord oder ein Anschlag.

Ja, wenn es dann heftiger wird, ist dieses Verhalten nicht mehr für jeden nachvollziehbar, weil es nicht jeder macht. Dann finden wir das krank. Der Mechanismus ist aber kein anderer. Nur die Grandiosität ist neu. Und wenn man solche Menschen als krank bezeichnet, stimmt das nicht, weil ein Kranker keinen Handlungsspielraum mehr hat. Er kann sich nicht mehr für das eine oder das andere entscheiden.

Woran erkennt man eine Krankheit? Im Fall Breivik sind die psychiatrischen Gutachten ja zu keinem klaren Ergebnis gekommen.

Wenn Sie zum Internisten gehen und sich dann von einem anderen eine zweite Meinung einholen, lautet die oft anders. Aber was man auf solchen Feldern, die wissenschaftlicher, weil messbarer daherkommen, akzeptiert, wirft man der Psychiatrie vor. Dabei gibt es auch da viel Normatives wie in der übrigen Medizin. Ab einer bestimmten Grenze, die sich aus den Erfahrungen ergibt, sagt man: Dieser Blutwert ist nicht mehr gesund. In der Psychiatrie gibt es Symptome, die in allen Kulturen und unter allen Umständen als krank angesehen werden.

Und was ist mit den bunten Bildern aus der Hirnforschung? Damit lassen sich psychische Krankheiten angeblich sogar zeigen.

In der funktionellen Neurobiologie messen wir Dinge, deren Bedeutung wir noch gar nicht kennen. Dafür ist diese Wissenschaft noch zu jung. Und diese Studien über Hirnscans operieren mit erschreckend geringen Fallzahlen. Man zeigt bei 16 Pädophilen eine Ver-änderung im Gehirn. Was sagt das aber über all die Pädophilen, die draußen herumlaufen? Es wird viele geben, die diese Veränderung nicht haben. Vor Gericht kann man das nicht anwenden.

In der Medizin ließe auch niemand ein so wenig untersuchtes Verfahren auf Patienten los. Und trotzdem gab es ein Gerichtsurteil in Italien. Die Richter haben aufgrund eines Aggressionsgens die Strafe gemildert.

Es waren sogar zwei Fälle. Dabei hilft die Typisierung dieses so-genannten MAO-A-Gens allein gar nichts. Sie sagt höchstens etwas aus, wenn eine Variante des Gens mit einer defizitären Kindheit gekoppelt ist. Aber die meisten Menschen mit dieser Variante und einer solchen Kindheit werden nie straffällig.

Warum wurde das dann vor Gericht überhaupt erörtert?

Gerichte bewegen sich immer in einem Ermessensspielraum. Sie müssen bewerten, wem sie glauben und wem nicht. Das ist eine große Verantwortung, und Richter sind oft glücklich, wenn man ihnen vermeintlich sichere Leitlinien an die Hand gibt; messbare Dinge wie „Der Bremsweg war zu lang, als dass er langsam gefahren sein könnte“. Dann muss der Richter nicht werten.

Sind Hirnscans und Gentests also eher verführerisch statt hilfreich?

Bilder und schöne Grafiken von Genen, die so oder so gestreift sind, hinterlassen einen größeren Eindruck als Berichte und Phänomenologie. Und Richter sind keine Neurowissenschaftler. Wenn ihnen jemand überzeugend darlegt, dass ein Mensch mit so einem Gen nur so und so handeln KANN, dann lassen sich manche davon beeindrucken.

Das klingt, als sei die Idee vom freien Willen auch im Gericht nicht mehr sehr populär.

Auf einer wissenschaftlichen Tagung im vergangenen Jahr waren der deutsche Gerichtspsychiater Hans-Ludwig Kröber und ich die einzigen Vertreter des freien Willens – zwischen lauter Kollegen, die von autonomen Hirnstrukturen gesprochen haben. Wie man psychiatrisch diagnostiziert, ist für die meisten eben schwammig. Was geredet wird, ist minderwertig gegenüber dem, was sich apparativ erheben lässt. Es ist nicht wissenschaftlich. Das ist Technikgläubigkeit, die wir seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in uns tragen.

Bei aller Kritik müssen aber auch Sie zugeben, dass die Erkenntnisse aus der Untersuchung von Tätergehirnen zumindest interessant sind. Können Sie sich vorstellen, dass Psychiatrie und Hirnforschung einander stützen?

Absolut. Manches ist interessant und beginnt, eine Bereicherung zu werden. Was ich kritisiere ist, dass man aus viel zu wenigen Ergebnissen zu viel schließt – zum Beispiel, dass der Mensch keinen freien Willen hat. Wegen ein paar bunter Bilder, erhoben an 17 Probanden, stellen wir unser Weltbild auf den Kopf. Das kann nicht sein.

Im Fall von Breivik hätten sicher viele gern gewusst, wie es im Kopf eines Mannes aussieht, der 77 Menschen tötet und für den Strafmilderung dann die größte Strafe zu sein scheint.

Was die Staatsanwaltschaft in der Causa Breivik gemacht hat, war klug. Sie hat gesagt: Schuldun-fähigkeit bedeutet die geringere Strafe. Zweitens müssen wir für den Angeklagten das Vorteilhafte wählen. Wir haben Zweifel an seiner Schuldfähigkeit und müssen diesen Zweifel zu seinen Gunsten auslegen, und das ist die Schuldunfähigkeit. Breivik scheitert also an zwei Rechtsgrundsätzen.

Warum besteht er auf voller Schuldfähigkeit?

Das ist kein Einzelfall. Viele psychisch kranke Täter wollen gewusst haben, was sie taten, denn die Feststellung, sie seien verrückt, entwertet sie. Man spricht ihnen die Verantwortung ab, dabei möchten sie unbedingt ernst genommen werden.

Gibt es da oft einen angeblichen politischen Hintergrund?

Der Täter nimmt eine Idee und verrennt sich in sie. Aber die Idee kann auch sein, dass Tulpenzwiebeln das beste Gemüse sind. Jeder Wahnhafte greift etwas auf, das er kennt. Sie werden bei einem Wahnhaften aus Europa keine Ideen aus dem Kulturkreis der Maori finden, sondern das, was in der Luft liegt. Und Breivik hat sich an dieser Idee der Überfremdung festgebissen.

Wenn es eine biologische Voraussetzung für Taten dieser Art gibt, dann scheint es das männliche Geschlecht zu sein.

Es ist wahrscheinlich faktisch so, dass man auf die Männer mehr aufpassen muss.

Aber sollten wir dann nicht auch auf Menschen aufpassen, die sich in etwas anderem als nur im Geschlecht unterscheiden – zum Beispiel im Gehirn?

Das Gehirn ist so komplex, dass jedes andere Organ einfältig dagegen erscheint. Und die Methoden sind einfach nicht subtil genug, um diese Komplexität zu erfassen. Es gab einen Test, da hat man extrem Gläubige und extreme Apple-Fans in einen Tomografen geschoben. Die Aktivität im Gehirn beider Gruppen war in einem bestimmten Hirnareal sehr hoch. Daraus konnte man einen Zustand innerer Anbetung ableiten. Was man aber nicht wusste, war: Denkt der jetzt an Gott oder an Apple?

Sie sagen: In einer fernen Zukunft könnte sich das ändern.

Man muss sehen, was aus den Dingen wird. Wir haben aufgrund biologischer Merkmale schon Leute bewertet und verfolgt. Wir haben gesagt: Die stammen von Juden ab, die bringen wir um. Und wir sollten heute nicht so tun, als seien wir aufgeklärter und als könne uns das nicht mehr passieren. Die Begründungen werden nur subtiler. Seit der Italiener Cesare Lombroso im 19. Jahrhundert Verbrecher an Augen und Ohren erkennen wollte, hat sich das immer weiter entwickelt. Dann kam die Abstammung. Heute können wir viel subtilere Merkmale untersuchen, aufgrund derer man die Leute irgendwann vielleicht prophylaktisch wegsperrt.

Dazu müsste man aber das Rechtssystem ändern.

In Deutschland hat man das gemacht. Die Sicherheitsverwahrung ist eine nachträgliche Änderung des Systems. Man sagt: Der war schon straffällig, den lassen wir nicht mehr raus. Die Basis ist eine andere, das Ergebnis unterscheidet sich aber nicht wesentlich.

Die Fragen stellte Kathrin Zinkant

Heidi Kastner gilt als führende Gerichtspsychiaterin Österreichs. Die 1962 geborene Chefärztin der forensischen Abteilung der Landesnervenklinik Linz erstellte u.a. das Gutachten von Josef Fritzl, der seine Tochter 24 Jahre gefangen hielt, vergewaltigte und sieben Mal schwängerte. Von Kastner ist 2009 das Buch Täter Väter über Gewaltverbrechen in der Familie erschienen

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Kathrin Zinkant

Dinosaurier auf der Venus

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