Ja, es ist kompliziert. Aber auch schön

Physik total Der LHC hat geliefert: Große Aufregung um das Higgs-Teilchen, das gefunden ist und die Welt verändert. Wirklich? Eine Bestandsaufnahme in Fragen und Antworten

1 Was hat das Higgs-Teilchen mit Gott zu tun?

Das einzige Bindeglied zwischen dem Higgs-Teilchen und Gott ist der Mensch. Als belegt gilt, dass der US-Nobelpreisträger Leon Lederman 1993 ein Buch schrieb, das The Goddamn Particle heißen sollte. Gemeint war das schwer auffindbare Higgs. Die Verdammung Gottes auf einem Buch-deckel erschien dem Verleger in den USA aber wenig ratsam – Ledermans Co-Autor Dick Teresi soll daraufhin auf The God Particle verkürzt haben.

Dass sich der unsinnige Begriff vom „Gottesteilchen“ so hartnäckig gehalten hat, dürfte tiefer liegende Gründe haben. Die Theorien, die das Higgs vorhersagen, sagen auch, dass das Universum einst aus dem Nichts entstanden ist – was ohne Gott unvorstellbar zu sein scheint, weil es dann kein „Vorher“ gegeben hat. Muss es zwar nicht. Der Physiker Lawrence Krauss, der gerade A Universe from Nothing veröffentlicht hat, hält den Glauben an einen Schöpfer als Antwort auf scheinbar unlösbare Fragen für „intellektuelle Trägheit“. Die Kosmologie wird von Gläubigen aber trotzdem als Vehikel für den Gottesbeweis betrachtet. Der in Texas geplante, im Vergleich zum LHC in Genf noch größere Superbeschleuniger zum Beispiel soll nicht gebaut worden sein, weil die Forscher dem texanischen Gouverneur nicht versprechen wollten, mit ihren Experimenten die Existenz von Gott zu belegen.

2 Was genau erklärt das Higgs?

Die Tagesschau ließ am Tag der Higgs-Verkündung in einem Bericht verlauten, man sei nun in der Frage einen Schritt weiter, „woher wir kommen, und wohin wir gehen“. Wenn mit „wir“ das Universum und alle darin enthaltenen Massen gemeint war, stimmt das: Das derzeit anerkannte Modell der Physik geht davon aus, dass sämtliche Elementarteilchen kurz nach dem Urknall noch masselos waren und einen wesentlichen Teil ihrer individuellen Massen erst, nachdem das Universum etwas abgekühlt war, durch den sogenannten Higgs-Mechanismus erlangten. Im Zentrum dieses Mechanismus steht das Higgs-Feld, das allen Raum erfüllt wie ein Ozean aus einer etwas zähen Flüssigkeit. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, können Teilchen dieses Feld nicht durchqueren, ohne mit ihm zu wechselwirken und Masse zu gewinnen. Ausdruck dieser Interaktion ist das Higgs-Teilchen.

Um diesen Effekt zu erklären wird oft auch eine Party beschrieben, durch die manche Personen unerkannt hindurchhuschen können, während ein Prominenter den Raum betritt und eine Traube von Menschen anzieht, die an ihm hängen. Der Vergleich hinkt ein bisschen, weil Higgs-Teilchen außerhalb der Wechselwirkung nicht herumstehen und Bier trinken können. Sie zerfallen sofort, sobald der Promi weitergegangen ist. Physiker sagen auch Boson zum Higgs, was anschaulich gesprochen ein Teilchen ist, das Kräfte übermittelt.

3 Wie kann man das Higgs-Teilchen nachweisen?

Fast die ganze Physik befasst sich heute mit Phänomenen, die man nicht direkt sieht. Selbst Atome, die man mittlerweile als große Brocken betrachten muss, lassen sich optisch nicht abbilden, sondern nur indirekt durch Messungen. Das Higgs-Teilchen ist aber in mehrfacher Hinsicht ein be-sonders schwieriger Kandidat: Es hat zumindest in seiner Standard-Modell-Ausführung (siehe dazu Frage 6) keine Ladung und ist auch nicht stabil – deshalb kann man es überhaupt nicht direkt messen. Es kann aber auf jeweils genau bestimmte Art in eine Vielzahl verschiedener anderer Teilchen „zerfallen“, wobei Zerfall hier keine Spaltung meint, sondern dass sich die Energie des Elementarteilchens in andere Teilchen verwandelt. Nach diesen Zerfallsmustern hält man am großen Beschleuniger in Genf Ausschau. Sie sind auf bunten Bildern dargestellt (siehe kleines Bild rechts).

4 Wurde das Higgs-Teilchen denn wirklich entdeckt? Wer könnte das überprüfen?

Man hat ein Teilchen gefunden, das in seinen bisher erkennbaren Eigenschaften verteufelt gut dem vorhergesagten Higgs-Teilchen entspricht. Wenn die noch nicht ausgewerteten Daten nichts überraschend anderes ergeben, ist das gefundene Teilchen das gesuchte Higgs-Boson. Schwieriger sieht es mit einem vom LHC unabhängigen Nachweis aus: Der Tevatron-Beschleuniger am Fermi-Lab in den USA wäre zwar in der Lage gewesen, die Ergebnisse der CERN-Experimente gezielt zu prüfen – weil die Teilchenkollisionen dort ähnlich hohe Energien erreichten.

Ende September 2011 wurde der Tevatron aber abgestellt. Was bleibt sind zuvor gesammelte Daten, die mehrfach Hinweise auf das Higgs-Teilchen geliefert hatten, und in denen nun rückwirkend weitere Belege gesucht werden können. Davon abgesehen be-nutzen die Experimente am CERN zwar denselben Beschleuniger. Die Messapparate (Detektoren) des CMS- und Atlas-Experiments, die das Higgs-Teilchen jeweils gefunden haben, sind aber voneinander verschieden und auch räumlich getrennt. Ebenso arbeiten nicht dieselben Forscher in diesen Versuchen. Es ist also Konkurrenz im Spiel, und das kann als Indiz für eine gewisse Unabhängigkeit der Ergebnisse gewertet werden.

5 Wurde das Higgs-Teilchen nur entdeckt, damit Forscher ihr „Glaubenssystem“ nicht über den Haufen werfen müssen?

Das Theoriesystem der modernen Physik gründet sich nicht auf das Higgs-Teilchen allein, und selbst wenn das sogenannte Standardmodell (siehe Frage 6) das Higgs-Teilchen korrekt vorhergesagt hat, bedeutet das bei Weitem nicht, dass damit für alle Zeiten Erleichterung einkehrt. Wie weiter unten beschrieben, gibt es noch einen ganzen Haufen Probleme, die komplett ungelöst sind und die durch das Standardmodell allein auch niemals zu lösen sein werden.

Insofern kann es gar nicht darum gehen, ein „Glaubenssystem“ aufrecht zu halten. Man unterschätzt da auch die Haltung vieler Physiker zur Belastbarkeit und Ästhetik ihrer Modelle, bei denen es sich ja vorwiegend um höchste Mathematik handelt. Stephen Hawking schreibt in Der große Entwurf: „Obwohl Physiker sehr hartnäckig sein können, wenn es darum geht, eine Theorie zu retten, schwindet dieses Bedürfnis im gleichen Maße, wie die nötigen Modifikationen schwerfällig oder künstlich werden – und damit ,un-elegant‘“. Eleganz ist ein ein wichtiges Stichwort. Physiker wollen elegante Modelle, und die sind Albert Einstein zufolge so einfach wie möglich. Aber nicht einfacher.

6 Was ist denn das Standardmodell?

Das Standardmodell ist kein Modell in dem Sinne, dass es sich ein Genie als in sich geschlossenes Gedankengebäude ausgedacht hätte. Forscher haben es Anfang der Siebziger aus zahlreichen vorhandenen Ansätzen entwickelt, um die Beobachtungen in der experimentellen Physik einheitlich zu beschreiben und daraus neue Vorhersagen abzuleiten. Das Ergebnis ist ein Modell aus Materieteilchen und Kräfteteilchen, die dimensionslos sind, aber – dem Higgs-Feld sei Dank – fast alle eine Masse haben und die miteinander wechselwirken. Damit lassen sich drei der vier grundlegenden Kräfte erklären, die man in der Natur beobachtet. Und das ist der „Standard“, auf den man gut aufbauen kann – und muss, denn es bleiben einige Lücken. Das Standardmodell beschreibt zum Beispiel die Gravitation nicht. Davon abgesehen ist das Standardmodell in seiner jetzigen Form auch nicht sehr elegant.

7 Gibt es eine Alternative zum Standard-modell, und welche Rolle spielt das Higgs darin?

Es gibt weitere, teils miteinander zusammenhängende Theorien, die jenseits des Standardmodells, aber immer darauf aufbauend, Erklärungen zur Beschaffenheit der Welt liefern. Die bedeutendste Theorie ist die Supersymmetrie (SUSY), die zu jedem Elementarteilchen Superpartner – mit lustigen Namen wie Photino oder Selektron – postuliert und die in der Lage wäre, die fehlende vierte Kraft, die Gravitation, durch die sogenannte Supergravitation zu erklären und noch ein paar andere Probleme zu lösen. Nach einigen SUSY-Teilchen wird am LHC bereits gesucht.

Wichtig ist: Die SUSY sagt auch das Higgs-Teilchen vorher, allerdings gibt es in der Supersymmetrie nicht nur ein Higgs, sondern fünf Higgse (Superpartner nicht mitgezählt). Nicht zuletzt ist Supersymmetrie eine notwendige Voraussetzung der Stringtheorie, die sich zwar fast völlig der experimentellen Überprüfung entzieht, aber als aussichtsreichster Kandidat einer Theory of Everything („Weltformel“) gilt, für die es auch schon Vorschläge wie die sogenannte M-Theorie gibt. Die Stringtheorie beschreibt die Elementarteilchen nicht als dimensionslose Punkte, sondern als schwingende kleine Fäden (Strings), und ist zehndimensional. Was in unserer vierdimensionalen Welt etwas verrückt erscheint, aber durch sehr klein aufgerollte oder anderweitig verborgene Dimensionen erklärt werden kann. Die Stringtheorie selbst trifft keine Aussagen über ein Higgs-Teilchen, aber da sie offenbar nicht ohne SUSY sein kann, und SUSY nicht ohne Higgs, befand der Stringtheoretiker Gordon Kane schon vor vielen Jahren, dass ein Nachweis des Higgs-Teilchens für die Stringtheorie sprechen werde. Für andere Theorien wäre das Gegenteil der Fall gewesen: Das Technicolor-Modell etwa (siehe der Freitag Nr. 16, 2011) schließt Higgs-Teilchen aus und dürfte nun nicht mehr so viele Anhänger finden.

8 Was hat es mit der dunklen Materie und der Antimaterie auf sich?

Was wäre die Welt ohne ein paar letzte Rätsel, was wären vor allem die Medien ohne sie? Seit vergangenem Mittwoch türmen sich schwülstige Geschichten über Antimaterie und Dunkle Materie in der Presse – als Antwort auf die Frage, was eigentlich als nächstes zu ergründen wäre, nachdem man das Higgs-Teilchen ja nun gefunden hat. Schon der Bezug ist schräg, weil Antimaterie einfach ein anderer Aspekt des Standardmodells ist, und der Higgs-Nachweis nicht die Fahndung nach der Dunklen Materie behindert hat.

Die Existenz einer solchen großen, unsichtbaren und ungleichmäßig verteilten Materie im Kosmos gilt als sehr wahrscheinlicher Grund dafür, dass sich Sterne und Galaxien im Weltraum nicht so bewegen, wie sie müssten, wenn das, was wir da draußen sehen, alles wäre. Wir sehen aber nur vier Prozent des Universums. Was ist der Rest? Woraus die Dunkle Materie besteht, die vermutlich etwa ein Viertel des Alls ausfüllt, beschäftigt auch die Teilchenphysiker am CERN. Gesucht wird ein Teilchen, das nur über die Schwerkraft wechselwirkt. Heißester Kandidat für so ein „Super-WIMP“ ist ein SUSY-Teilchen, dessen Entdeckung allerdings aussteht.

9 Das kostet alles viel Geld. Lohnt es sich?

Lohnt sich Grundlagenforschung? Sie erregt nicht nur im kapitalfixierten Lager Misstrauen, weil die Projekte kosten und nicht sofort in einen praktischen (und profi-tablen) Nutzen münden. Obschon zur Entdeckung des Higgs eilig die deutsche Beteiligung betont und gelobt wurde, orientiert sich ins-besondere Bundesforschungs-ministerin Annette Schavan (CDU) lieber an der anwendungsbezogenen Forschung. Schade. Neugier ist eine Grundeigenschaft des Menschen und Fortschritt wäre ohne sie undenkbar. Viele grundlegende Erkenntnisse entfalten Jahrzehnte später ihr alltagstaugliches Potenzial. Dass der Bau des LHC in Genf mehr als drei Milliarden Euro kostete, mag zwar teuer klingen. Schon der neue Flughafen Berlin-Brandenburg wird allerdings teurer sein.

1o Warum sollte mich das Higgs-Teilchen überhaupt interessieren?

Wenn man dem Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer glauben darf, sollte sich niemand für das Higgs-Teilchen interessieren, weil die eigentliche Denkleistung vor 50 Jahren von Peter Higgs erbracht wurde und der empirische Beleg dem Heidelberger Gelehrten wohl als überflüssiger Ballast erscheint. Die Raumfahrt habe immerhin schöne Bilder von der Erde geliefert! Nun muss sich auch niemand für schöne Bilder von der Erde interessieren, genauso wenig wie für Literatur, Musik oder Fußball. Physik mag etwas weniger leicht zugänglich sein, ist aber mindestens genauso spannend.

Die Fragen stellten Redaktion und Mitarbeiter des Freitag.

Literaturempfehlungen:

The Fabric of the Cosmos Brian Greene Vintage 2005, 592 S., 11,95€ (Die deutsche Übersetzung Der Stoff, aus dem der Kosmos ist erscheint bei Goldmann)

Die Vermessung des Universums Lisa Randall Fischer 2012, 496 S., 24,99 €

The Grand Design Stephen Hawking und Leonard Mlodinow Random House 2011, 250 S., 9,49 € (Die deutsche Übersetzung Der große Entwurf erscheint bei rororo)

A Universe from Nothing Lawrence M. Krauss Freepress 2012, 224 S., 16,95 € (noch nicht auf Deutsch erschienen)

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