Konjunktur der Leiden

Diagnose: Mensch Gefühle sind was schönes? Wissenschaftlich betrachtet ist die Idee höchst naiv. Denn in Wahrheit bilden Emotionen das Fundament unterschätzter Volkspathologien

Rührung ist ein Volksleiden. Und zwar ein unterschätztes. Das muss allein deshalb so sein, weil das Gerührtsein zwar eine süße, aber unzweifelhaft auch eine schmerzhafte Komponente besitzt, und damit also erstens Leiden ist. Außerdem ist es unter Menschen ja sicher sehr verbreitet, was zweitens heißt: ein Volksphänomen. In etwa so wie Kopf- oder Rückenschmerzen, die tun auch weh und fast jeder hat sie. Entscheidend aber ist, dass bisher noch niemandem eingefallen wäre, die Gefühlsregung der Rührung als Massenplage zu betrachten. Erst diese heillose Unterschätzung gibt dem ganzen – im Gegensatz zum stets als Volksleiden beklagten Ziepen in Kreuz und Schläfe – etwas Unerwartetes, ja, Überraschendes. Potzblitz! Rührung ein Volksleiden? Wäre man so gar nicht draufgekommen!

Mit dem Liebeskummer war das auch so. Bis vor Kurzem noch als ein relativ schlichtes und gerade wegen seiner Verbreitung irgendwie normales Phänomen in engen Bindungen verkannt, ist Liebeskummer jetzt ein unterschätztes Leiden. Und es macht deshalb krank. Der Stern hat das vor ein paar Wochen endlich einmal in aller Breite offengelegt, und die Wissenschaft hat ihm dafür viele Belege geliefert. Demnach spielt sich, wenn die Liebe entfleucht, in den Köpfen (selbige: völlig unterschätzt!) ein nachgerade pathologisches Feuerwerk ab. Depressionen, Phantomschmerz, Sucht – oder halt: Entzug natürlich: Alles eine Frage von Neurotransmittern und Belohnungssystemeigenschaften, und die Wurzel für diese biologischen Verquickungen liegt natürlich in der Evolu­tion.

Es geht in der Liebe nämlich gar nicht um Sex, über den deshalb auch mal weniger gesprochen werden könnte, sondern immer um Mama, zu der man die einzige natürliche Bindung seines Lebens aufbaut. Der Rest ist quasi dem Erwachsenwerden geschuldet, denn irgendwann setzt Mama ihre Kinder vor die Tür, und ab hier wird es krankhaft, weil unnatürlich: Die Menschen projizieren ihr Hinausgeworfensein dann nämlich in alle folgenden engen menschlichen Bindungen rein, vor allem in die mit Sex, weil beim Sex bekanntlich ein Hormon ausgeschüttet wird, das man vom Stillen kennt. Es heißt Oxytocin und macht glücklich, bereitet jenseits seiner natürlichen Funktion aber eigentlich nur Ärger. Denn es wird, Oxytocin hin oder her, nie wieder so sein wie mit Mutti. Kein Wunder, dass das komplizierte neuronale Netzwerk von Homo sapiens das mit der Liebe nicht lange mitmacht und dran kaputtgeht.

Der Liebeskummer muss deshalb dringend bekämpft werden. Nur wie? Versuchen sich daran nicht täglich Millionen Menschen auf der Welt, und zwar vergeblich? Richtig, aber sie alle unterschätzen den Kummer, weil sie ihn noch nicht als Krankheit begreifen. Hat man sie erst um die Kenntnis des pathologischen Potenzials bereichert, werden sich die Dinge fügen. Als Erstes ließe sich vielleicht der Straftatbestand der Körperverletzung erweitern: Wer seinen Partner ohne dessen Einverständnis verlässt, wird angeklagt, weil er mutwillig eine organische Erkrankung des Verlassenen riskiert hat– eben Sucht, Depression, Phantomschmerz. Den Geschädigten wiederum könnte man mit neuen Medikamenten helfen, mit maßgeschneiderten Antidepressiva wider die Melancholie des Verlassenseins. Einzig schade wäre es dann eigentlich nur noch um die Liebe. Denn wenn der Mensch ganz sicher nicht krank werden will von der Liebe – man weiß ja nie, wann so ein Kummer zuschlägt –, sollte er sich beizeiten von der Liebe verabschieden. Es sei denn, er leidet um ihretwillen gern. Bei all den unterschätzten Leiden: Ein rührender Gedanke.

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