Es gab eine Zeit, es ist um die 8.000 Jahre her, da lebten auf der ganzen Erde weniger Menschen als heute im Stadtgebiet von London. Sechs Millionen Menschen, luftig verteilt auf die Kontinente und so fortpflanzungsfreudig, wie man es eben sein kann, wenn man ohne Unterlass auf Nahrungssuche ist – nämlich mäßig. Doch dann wurde der Mensch sesshaft. Das war die Wende.
Ende Oktober nun wird der befremdliche Zähler der Website weltbevölkerung.de auf die Ziffer 7.000.000.000 springen. Sieben Milliarden Menschen. Gemessen daran, wie lange sich Homo sapiens schon auf diesem Planeten herumtreibt, immerhin seit 160.000 Jahren, wirken ein paar Tausend Jahre für ein Wachstum der Weltbevölkerung auf das knapp 1.200-fache gespenstisch kurz. Gemessen an dem, was die UNO für die kommenden Jahrzehnte prophezeit, erscheint es lächerlich lang: Noch vor Ende dieses Jahrhunderts sollen es zehn Milliarden Menschen sein.
Auslaufmodell Patriarchat
Ob es so kommt, ob nicht vorher ein population peak erreicht wird, auf den Entspannung folgt, oder ob sich das Wachstum sogar beschleunigt, ist umstritten. Offiziell fußen die Prognosen auf Daten, die man in Volkszählungen oder Zensus-Analysen erhoben hat. Sie sind entsprechend lückenhaft – gerade für Entwicklungsländer. Doch demografische Trends ließen sich auf dieser Basis bisher überraschend zuverlässig ableiten. Trotzdem kritisierte der anerkannte Umweltjournalist Fred Pearce jüngst in Nature, die Projektionen der UNO sähen „mehr nach politischem Konstrukt“ aus als nach „wissenschaftlicher Analyse“. Der Autor von Peoplequake weist auf die globale Geburtenrate hin, die sich binnen 50 Jahren halbiert habe. Das Patriarchat betrachtet Pearce als Auslaufmodell. Bildung werde selbst in den ärmsten Ländern besser zugänglich, Frauen sei eine selbstbestimmtere Familienplanung möglich. All das werde zu einer drastischen Entschärfung des Dramas führen. Völlig gegensätzlicher Meinung ist der Chefdemograf des Population Reference Bureau in Washington: Carl Haub hält die UN-Projektionen für viel zu vorsichtig und die Lage für weit dramatischer als bisher beschrieben.
Die Sorge der UNO um die Folgen einer sich stetig verschärfenden Situation werden derweil fast weltweit geteilt, auch wenn das Bevölkerungswachstum nur die eine Hälfte des Problems darstellt. Die andere Hälfte heißt Bevölkerungsschwund als Folge der niedrigen Geburtenraten in vielen westlichen Industrienationen. Er zeichnet sich auch in Schwellenländern wie China oder Südkorea oder in traditionell kinderreichen südeuropäischen Staaten ab. Doch während sich die Bedenken der entwickelten Gesellschaften eher in politischem Druck und bürgerlichem Alarmismus (siehe Interview) äußern, geht es global gesehen um drängendere Fragen.
Nicht gerade leise schwingt in der bevorstehenden Verkündung des 7.000.000.000 Mitglieds der Völkergemeinschaft das Dilemma mit, das der anglikanische Pfarrer Thomas Malthus vor der Wende zum 19. Jahrhundert so beschrieb: Die Bevölkerung kann exponentiell wachsen und tut es in weiten Teilen der Welt auch. Die Nahrungsmittelproduktion aber ist nicht in der Lage, mit dieser Entwicklung Schritt zu halten. So weit ein scheinbar empirischer Befund, an dem bis heute kaum gerüttelt wird – sieht man davon ab, dass die Nahrung noch nicht so weit verknappt ist, als dass man die Menschen nicht zumindest theoretisch weltweit satt bekäme. Aber Malthus ließ auch durchblicken, worin er die Lösung des Problems sah: Wer sich nicht ernähren könne und wessen Arbeit nicht benötigt werde, der sei „wirklich zu viel auf dieser Erde“. Die „Natur“ gebiete ihm „abzutreten“.
Es ist eine Logik, die dem Rassenhass und nicht zuletzt dem Genozid ein Fundament bereitet hat, immer wieder. Auch Jared Diamond argumentiert in seinem Werk über den Niedergang menschlicher Gesellschaften, Kollaps, dass der durch den Rassegedanken der hamitischen Hypothese gesäte Hass in Ruanda nicht allein und auch nicht an der Wurzel zum Völkermord an fast einer Million Ruandern, meist Tutsi, führte. Eher sei die dramatische Überbevölkerung im bis heute am dichtesten besiedelten Staat Afrikas das eigentliche „Pulverfass“ gewesen, das sich 1994 an den Fehden zwischen Hutus und Tutsi entzündete. Die Idee von Malthus wurde von Tätern wie Opfern offen formuliert: Die Knappheit bot nicht genug für alle. Die Lösung hieß, die Bevölkerung zu „dezimieren“.
Diamonds Buch wird gern zitiert, um die verheerenden Folgen eines extremen Bevölkerungsdrucks zu belegen. Der Evolutionsbiologe meint dabei keineswegs, dass Wachstum in den Kollaps münden muss. Eines aber sei klar: Bevölkerungsprobleme, die durch nicht-nachhaltige Ausbeutung von Ressourcen entstehen, laufen auf eine Krise hinaus. Wie sie gelöst werde, obliege der Entscheidung des Menschen. Malthus glaubte an die durch die „Natur“ bestimmte und deshalb gerechtfertigte Auslöschung als logische Konsequenz. Man möchte gar nicht wissen, wer diese Auffassung heute noch teilt. Diamond und viele andere glauben dagegen an eine friedliche, ressourcenschonende Lösung. Und es ist eine beglückende Erkenntnis, dass die düsteren Regulationsideen des anglikanischen Pfarrers von der Realität auch widerlegt werden: im Machakos-Reservat etwa, einem von Dürre geprägten Distrikt Kenyas, der einst Teil der britischen Kolonie war. Damals folgte den mitgebrachten Nutzpflanzen, der medizinischen Versorgung und den Bildungsmöglichkeiten schnell eine Verdopplung der Einwohnerzahl. Als sie 1937 auf 250.000 wuchs, rapportierte ein britischer Bürokrat, die „Wohltätigkeit“ des Empire habe eine explosive „Vermehrung“ der Einwohner befördert, die ökologischen Folgen seien verheerend.
Statt Hunger und Krieg
74 Jahre später leben mehr als 1,5 Millionen Menschen in Machakos, das heute grüner ist und in dem es den Menschen besser geht als je zuvor. Das alles in einem Land, in dem jede Frau im Mittel fünf Kinder zur Welt bringt, doppelt so viele wie im globalen Durchschnitt und genau so viele wie in Ruanda. Aber in Machakos fand man einen gewaltfreien Lösungsweg. Forscher wie Ester Boserup haben aus solchen Beispielen schon früh hoffnungsvolle Schlüsse gezogen: 1965 kam die dänische Ökonomin in einer vielbeachteten Studie zu dem Ergebnis, dass ein starkes Bevölkerungswachstum anstelle von Hunger und Krieg auch das Gegenteil bewirken könne, weil mehr Menschen nicht nur mehr hungrige Menschen bedeuteten, sondern auch mehr Arme und Beine, die arbeiten – und mehr Köpfe, die denken. Diese „Intensivierung“ sei eine Option des Wachstums. Sie muss nur erkannt und genutzt werden
Doch wie stark die Bevölkerung auch wachsen wird, und egal, für welche friedlichen Lösungen man sich in den jeweils abzuwägenden Situationen entscheidet: Einige Notwendigkeiten stehen längst fest. Auch Diamond weist immer wieder auf sie hin: Klimaschutz, Ressourcenschonung und die Bereitschaft zur gemeinsamen Anpassung an neue Situationen. Über-optimistische Szenarien dagegen im Sinne eines „Weiter-wie-bisher“, die jeden Ressourcenmangel ausblenden und etwa auf die großen Ölreserven in der Tiefsee vor Brasilien hinweisen oder darauf, dass neue Technologien schon neue Ressourcen erschließen werden, verbieten sich genau so wie düstere Visionen einer Überfüllungs-Apokalypse.
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