Wenn ein Pflanzensamen seine erste Antenne ins Erdreich streckt, dann ist sie noch zart, weiß, ziemlich hungrig – und ihr Weg führt zielstrebig nach unten. Nicht das Licht zieht sie an, sondern die Schwerkraft. Sie wird größer werden, Seitentriebe bilden, Anker sein, Nährstofflieferant und Schutzwall. Und schenkte man ihr mehr Beachtung, könnte dieses unscheinbare Ding namens Wurzel die Welt vor dem Hunger retten. So zumindest stellt sich das die kleine Gemeinde von Forschern vor, die, wie viele Wissenschaftler weltweit, nach neuen Möglichkeiten zur Steigerung der globalen Nahrungsmittelproduktion suchen.
Die Experten sind sich einig, dass die Grüne Revolution der sechziger Jahre längst den Zenit ihrer Wirkungskraft überschritten hat,
tten hat, weil sie schlicht nicht alle Gebiete dieser Erde erreichen konnte. Das Wasser wird knapp, moderne Hochleistungsdünger bleiben für die ärmsten Länder mit den ärmsten Böden unerschwinglich, neue Züchtungen erreichen die Grenzen der Produktivität, und gentechnisch veränderte Pflanzen, die ja immer wieder als die Lösung des Welthungerproblems gepriesen werden, wachsen vor allem in den Monokulturen der etablierten oder aufstrebenden Industrienationen – wo sie abgesehen vom Profit mehr Schaden als Nutzen anrichten. Die Weltbevölkerung aber wächst weiter: Bis zum Jahr 2050 werden etwa neun Milliarden Menschen auf der Erde leben, vielleicht auch zehn, und die Zahl derer, die sich durch ihr Leben hungern müssen, nimmt wieder zu. Die stetig wiederkehrende Erkenntnis lautet: Es muss etwas passieren.Aber wo noch ansetzen? Wenn es nach Jonathan Lynch ginge, dann käme die Rettung aus dem lichtlosen Untergrund des Ackerbodens, aus eben jenen zarten Härchen und holzigen Adern, mit denen die Pflanzen Nahrung und Wasser schöpfen. Wurzeln, davon ist der Forscher von der Pennsylvania State University in den USA überzeugt, könnten der Schlüssel zu einer „zweiten Grünen Revolution“ sein. Man müsste bloß verstehen, wie sie funktionieren, wie sie sich den Bedingungen anpassen lassen, wie sie tiefer wachsen, feinere Netze bilden, effektiver Wasser und Nährstoffe aufnehmen oder Gifte und Parasiten abwehren können. Dann ließen sich Pflanzen züchten, die Dürren oder Überflutungen trotzen, die keinen oder wenig Dünger benötigen, keine Pestizide oder Unkrautvernichtungsmittel, die mithin ökologisch verträglicher sind und sich auch von Kleinbauern in den Entwicklungsländern problemlos anbauen lassen.Vielfältig und gut vernetztAuf den ersten Blick eine ganz fabelhafte Idee – die als solche allerdings nicht vollkommen neu ist. In den siebziger Jahren schon stiefelte der amerikanische Pflanzengenetiker Wes Jackson über die Krume von Kansas und staunte nicht schlecht über das gesunde Wachstum der mehrjährigen Präriegräser dort. Aus solchem Kraut waren 10.000 Jahre zuvor immerhin die heutigen Ackerpflanzen hervorgegangen, und die Vorgänger brauchten noch immer keinen Dünger, wehrten sich allein gegen Schädlinge, der Boden, in dem sie wuchsen, war nicht erodiert. Im Unterschied zu den anfälligen Einjahres-Stengeln auf ausgelaugten Feldern hatten sie vor allem eines: ein robustes, gut vernetztes und vielfältiges Wurzelwerk.Jackson schloss aus dieser Beobachtung, dass Züchtungen von neuen mehrjährigen Getreidepflanzen eine produktive Alternative zum monokulturellen Einjahresanbau böten. Eine assistierte Evolution in diesem Sinne kennt längst gute Beispiele, und zehn der dreizehn wichtigsten Ackerpflanzen weltweit lassen sich auch durch Hybridisierung in die Mehrjährigkeit bringen. Doch die jüngeren Techniken der Molekularbiologie versprechen noch weit mehr: Sie versprechen Wurzeln, die gezielt auf die Bedürfnisse eines Bodens zugeschnitten werden können. Sie versprechen Designer-Wurzeln. Die Forschung auf diesem Feld hat gerade in den vergangenen fünf Jahren erst richtig Fahrt aufgenommen.Auch Wurzeln konkurrierenBesonders tief, mit extra langen Härchen, fein verzweigt oder wie ein Pfahl – schon die Form der Wurzeln kann über die Geschicke einer Ackerpflanze bestimmen, wie unter anderen Lynch herausgefunden hat. Hohlräume in den Wurzeln etwa verschaffen Maispflanzen auf trockenen Böden einen achtfachen Ertrag. Sojabohnen mit flachen, stark verzweigtem Wurzelwerk wachsen auch auf unfruchtbarer Erde, die arm an Phosphor ist. Zur Form führen aber auch Erkenntnisse aus der Biochemie: Wissenschaftler aus Bristol fanden vor zwei Jahren heraus, wie ein bestimmter Botenstoff die Länge der Härchen vergrößern kann, über die die Pflanzenwurzeln Nährstoffe und Wasser aufnehmen. Dieses so genannte Auxin könnte seinerseits den Anbau von Nahrungspflanzen auf armen Böden ermöglichen.Seit kurzem stehen im Blickfeld der Wissenschaft zudem Bakterien, die in der Rhizosphäre wachsen, also entweder direkt auf der Wurzeloberfläche oder im unmittelbar angrenzenden Erdreich. Im Mai berichteten Genetiker aus dem amerikanischen Brookhaven von einer Enterobacter-Spezies, die Pflanzen nicht nur eine Extraportion Nährstoffe zuweist, sondern sogar Hormone produziert, die den Lebensraum der Mikrobe – das Wurzelwerk der Pflanze – vergrößert. Mithilfe dieser Bakterien konnten die Wissenschaftler den Ertrag von Pappeln um mehr als ein Drittel steigern.Pappeln allerdings sind keine Nahrungspflanzen, sondern liefern Biosprit, und spätestens hier wird klar, dass die Wurzelforschung, so sie sich denn als erfolgreich erweist, nicht allein für jene von Interesse sein wird, die den Hungernden helfen wollen. Das Konkurrenzproblem zwischen der Flächen verschlingenden Ökobenzinwirtschaft und dem Anbau von Essbarem für Menschen wird durch die Züchtung von Pflanzen mit effektivem Wurzelwerk allein noch nicht gelöst. Offen ist auch, ob sich die effizientesten Ertragssteigerungen nicht letztlich doch mittels Manipulation am Erbgut erzielen lassen, die ja ihrerseits am effizientesten von der Saatgutindustrie durchgesetzt wird – warum sonst ist genetisch veränderter Mais beinahe weltweit auf den Feldern, während der nicht für den Profit entwickelte Golden Rice seit mehr als 11 Jahren auf die Markteinführung wartet – obwohl er täglich vielen Menschen das Leben retten könnte.Der gute Gedanke jedenfalls ist noch keine Garantie. Wie jedes wissenschaftliche Feld braucht auch dieser neue Forschungszweig Geld, und das wird nicht nur aus öffentlichen Quellen fließen, sobald sich die Steigerung der Produktivität via Wurzelwerk im Feldversuch bestätigt. Patente aber lassen sich nicht nur auf die Züchtung angeblich gesunder Brokkolisorten anmelden, sondern auch auf Verfahren zur Optimierung von Pflanzenwurzeln – die Prozeduren sind im Grunde vergleichbar. Das wird auch aus Sicht der Forschung zu bedenken sein.
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