Sehnsucht nach "normal"

Diagnose: Mensch Wenn Kinder heute Probleme machen, ist der Befund oft medizinisch. Und die Therapie immer häufiger pharmakologisch

Vor ein paar Tagen hat der NDR einen Zweiteiler wiederholt, in dem es um ein Kind geht, das im ländlichen Bayern der Sechziger groß wird. Je älter der Junge, desto offensichtlicher sein Unvermögen, sich wie andere Kinder zu verhalten, zu kommunizieren. Als er in die Schule kommt, pöbeln die Eltern der Mitschüler. Weil Felix zwar genial rechnen kann, aber nicht „normal“ ist. Also ein Idiot. Die Familie des Kindes wird gedisst. Nur die Mutter kämpft. Für eine Diagnose, eine Therapie. Die Kassen zahlen damals nichts. Die Mutter macht trotzdem weiter. Ihr Kind ist kein Idiot. Nur anders. Vielleicht krank. Sie hofft auf Hilfe.

Der Film Der kalte Himmel dokumentiert eine Vergangenheit voller Verklemmtheit und Vorurteile, er wurde als „Plädoyer für Außenseiter“ gelobt – aber die FAZ erlaubte sich ganz am Rande doch die Frage: Ob es so eine Geschichte nicht auch heute geben könnte? Und man muss sagen: Nein. Denn heute ist es eher schlimmer.

Die Techniker-Krankenkasse stellte jüngst fest, dass die Zahl der Verordnungen von Methylphenidat (aka Ritalin) an Kinder in den vergangenen fünf Jahren um fast 50 Prozent gestiegen ist. Jedes 20. Kind bekommt im Laufe seines Lebens die Diagnose Aufmerksamkeitsstörung (ADHS). Erst vor wenigen Tagen haben Forscher mit einer neuen Studie bestätigt, dass besonders früh eingeschulte Kinder ein dramatisch erhöhtes Risiko für diesen Befund haben.

Depressionen sind aus der Mode

Und ADHS ist längst nicht alles: Aggressive und sogenannte Intelligenzgeminderte Kinder, deren IQ im Rahmen der standardisierten Tests nicht das avisierte Mindest-Level erreicht, bekommen immer häufiger Medikamente wie das atypische Neuroleptikum Risperidon verschrieben – das wegen seiner Nebenwirkungen kritisiert und für Kinder genauso wenig zugelassen ist wie die Mehrzahl der verfügbaren Antidepressiva. Wobei Depressionen bei Kindern zwar aus der Mode gekommen zu sein scheinen, weil die Zahl der Diagnosen nicht mehr so stark zunimmt. Aber zunehmen tut sie weiterhin. Als Symptome für eine Depression gelten bei ein bis dreijährigen Kindern übrigens auch schlechter Schlaf, sich veränderndes Essverhalten, Wutanfälle und Weinen.

Es ist also ganz anders als einst. Aber immer deutlicher zeichnet sich ab: Der Segen von Diagnose und Therapie psychischer Leiden und der Erstattungsfähigkeit von Psychopharmaka hat sich ins Gegenteil verkehrt. Anstatt auffällige, nicht „normale“ Kinder ohne Unterstützung aus der Mitte unserer Gesellschaft auszugrenzen, kesselt man sie nun in eine von pharmakologischen Hilfsmitteln umzäunte und von fragwürdigen Diagnosekriterien definierte Mitte ein. Selbst Allen Frances, einer der Mitverfasser des DSM-IV, des derzeit gültigen Standardmanuals zur Diagnose von seelischen Erkrankungen, hat sich kürzlich – gemeinsam mit 9000 weiteren Medizinern – gegen die anstehende Erweiterung des Diagnosekatalogs (DSM-V) gewehrt. Man habe bereits mit dem DSM-IV „Epidemien wie ADHS“ erschaffen. Das Nachfolgewerk soll Diagnosen enthalten, für die sich nicht einmal Symptome nennen lassen.

Und es gibt ja einen Boden, auf den diese Entwicklung fällt: In dem sonderbaren Behagen darüber, dass viele klassische Vorurteile aus dem bürgerlichen Weltbild scheinbar verbannt und durch viel sinnstiftendes Bewusstsein – über Umwelt, Bildung, Gleichberechtigung, Integration – ersetzt wurden, hat sich nicht großzügige Offenheit, sondern Orientierungslosigkeit breitgemacht. Man weiß nicht mehr, was „normal“ genau ist – wünscht sich aber „normal“.

Auch Felix’ Mutter möchte, dass ihr Sohn „normal“ ist. Sie wünscht sich Heilung. Aber der progressive Arzt, bei dem sie Hilfe findet, der ihr das Geschenk der Diagnose macht, nimmt ihr die Hoffnung auf Therapie: keine Pillen. Sie muss akzeptieren, wie ihr Sohn ist.

Als Zuschauer von heute ist man darüber fast froh.

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Geschrieben von

Kathrin Zinkant

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