Süßer Weihnachsstern

Diagnose: Mensch Schöne, profitorientierte Nahrungswelt: Die Ökologisierung des Festes geht voran. So naturverbunden wie mit Stevia war der EU-Keks nie

Es ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, aber die Ökologisierung des Weihnachtsfestes schreitet unaufhaltsam voran. Auf dem Adventsmarkt vor der Türe etwa ist der Dekomaterialaufwand schon von gefühlten 20 auf gefühlte 15 Tonnen gesunken, statt der üblichen 100 abgehackten Tannen stehen nurmehr 80 neben den Buden herum. Darauf erstmal einen Glühwein im Pfandbecher.

Nachhaltigkeit ist aber auch für die häusliche Stimmungsfassade angesagt, und nicht zuletzt die europäische Gemeinschaft setzt sich dafür ein: Pflanzen statt Plastik zur festlichen Jahreszeit! Man lässt sich nicht lumpen und zahlt Fördergeld an Stars for Europe, den europäischen Weihnachtssternzüchterverband, zu dem unter anderem der sehr bedürftige und auf Tradition bedachte Saatgutriese Syngenta gehört. Der Verband klärt mit aufwendiger Infomappe (inklusive CD) über die romantische Geschichte von Euphorbia pulcherrima auf, jener meist roten Pflanze, die allwinterlich, in Massen produziert, deutsche Wohnzimmer überschwemmt. Ist das nicht schön? Zumal: Resultat eines „Akts der Diplomatie“, laut Stars for Europe, weil der erste Botschafter der USA die „Blume der heiligen Nacht“, wie sie auf mexi­kanisch heute heißt, so schön fand, dass er sie auf ihren „Siegeszug um die Welt“ schickte. Dass Euphorbia einst eine Pflanze der indigenen Völker Südamerikas, namentlich der Azteken war, welche das Gewächs ganz un­romantisch als Lederblume verehrten, bis ihre Kultur im Zuge der Conquista von Europäern ausgelöscht wurde, passt nicht so gut ins EU-geförderte Natur-Stimmungsbild mit Pflanze.

Aber auf dem Keksteller geht es schon weiter: Auch Stevia rebaudiana hat es den Europäern angetan, auch dies eine Pflanze, die unter den Indigenen Südamerikas eine Tradition hat, insbesondere die Guarani bröseln die getrockneten süßen Blätter seit Jahrhunderten in ihren Mate-Tee (wobei Letzterer seinen Feldzug als Schlankheitsmittel bereits erfolglos hinter sich gebracht hat).

Ab diesem Freitag soll Stevia ihre kalorienbefreite Süße nun endlich auch in europäischer Industrienahrung entfalten dürfen. E900 ist die Kennziffer des neuen Zusatzstoffes, der aber natürlich nicht natürlich im Sinne von naturbelassen sein kann, wir sind hier schließlich in der EU. E900 ist vielmehr natürlich im Sinne der Anlehnung: Keine Blätter, auch keine Vollextrakte der Stevia-Pflanze kommen in die dringend benötigten neuen Kalorien­armutsprodukte von Limonade über Keks bis Kartoffelchips (die in der Tat üblicherweise Zucker enthalten). Nein, die Verwendung von Pflanzenteilen bleibt selbstverständlich untersagt, und E900 kommt als hitzestabile chemische Verbindung mit Namen Steviosid auf den Markt, die sich auch synthetisch herstellen lässt. Nach den strengen, am Verbraucherschutz orientierten Regeln des europäischen Lebensmittelmarktes dürfen Produkte mit E900 deshalb nicht als natürlich beworben werden, was die Marketingabteilung sowohl des US-amerikanischen Steviosid-Herstellers Cargill (der schon mehrfach wegen Menschenrechtsverletzungen in den Erzeugerländern kritisiert wurde) und seiner großindustriellen Ab­nehmer (Nestlé und Co.) vor große Herausforderungen stellt.

Man darf davon ausgehen, dass diese Hürde auf dem Weg in eine noch schönere profitorientierte neue Nahrungswelt genommen wird. Als Vorbild könnten die Stars for Europe dienen: Die in allen Farben von Creme über Lachs bis marmoriert erhältlichen Wohn­zimmerscheußlichkeiten für den „Landhausstil“ haben mit der ursprünglichen Pflanze nicht mehr viel zu tun. Was schade ist. Denn die war wenigstens ­giftig.

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