Vergessene Broiler

Diagnose: Huhn Der Skandal um resistente Keime auf Geflügel ist mehr als nur das Zeugnis einer kranken Industrie. Über die Psychopathologie einer Fleischeslust

Es ist doch faszinierend anzusehen, wie die Nahrungsindustrie ihre eigenen Verdrängungsmechanismen hervorbringt: Im Grunde muss sie nur in regelmäßigen Abständen einen neuen Lebensmittelskandal fabrizieren, und schon landen alle vorherigen im Wunderland der öffentlichen Amnesie. Dioxin-Eier? Gammel-Döner? Fäkal­keim-Sprossen? Ja, da war mal was, aber was genau, entzieht sich momentan ­leider der Erinnerung – weil jetzt gerade sind wir total angewidert von Hühnchen.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz ist nämlich einkaufen gegangen, zwanzig Portionen Geflügelfleisch aus den üblichen Discountern und Supermärkten, zu den üblichen Spottpreisen, von den üblichen Großmastbetrieben. Und als habe man damit nun überhaupt nicht rechnen dürfen, fanden Mikrobiologen auf mehr als der Hälfte der Hähnchenteile Bakterien, und zwar welche, die gegen bestimmte, in der Massentierhaltung bekanntliche verbreitete Antibiotika resistent sind. Abgekürzt werden diese Mikroben mit MRSA (Methicillin-resistener Staphylococcus aureus) oder mit ESBL-resistent (von Extended Spectrum Beta-Laktamasen, ein bakterielles Enzym, das unter anderem Penicillin außer Gefecht setzt).

Ernährungsspezifische Demenz

Und hier zuckt dann doch die ein oder andere Gedächniszelle: Werden als MRSA nicht auch Bakterien bezeichnet, die den Menschen befallen und chronisch schwärende Infektionen verursachen, die zu Amputationen oder gar zum Tod führen können? Ja, richtig erinnert. Nur stammen diese gern „fleischfressend“ genannten Bakterien bislang nicht aus dem durcherhitzten Fleisch, dass der Mensch frisst, sondern aus Kliniken, in denen der Mensch seine eigenen Antibiotika futtert.

Aber das nur am Rande, denn jetzt greift ein anderer Memoryeffekt: Der müde Empörungsakku reicht nämlich nur noch für das Naheliegende, und nahe liegt, was auf den Teller kommt. Antibiotika, Hühnefrikassee, MRSA, tödliche Infektionen – fertig ist die Kausalkette, und glasklar auch, was zu tun bleibt. Verbraucherschutz- bzw. Landwirtschafts- und bisweilen auch Ernährungsministerin Ilse Aigner hat da schonmal was vorbereitet: Streng begrenzt soll der Einsatz von Antibiotika werden, meldepflichtig auch. Was begrüßenswert erscheint, aber irgendwie die Frage aufwirft, was denn aus dem EU-weiten Verbot von Antibiotika zur Leistungssteigerung geworden ist, das seit 2006 gilt? Wurde wohl vergessen.

Was den Teller betrifft, auf dessen Ladung sich so viel Aufmerksamkeit konzentriert, kann man aber auch die angekündigten Punkt-Maßnamen schon wieder der ernährungsspezifischen Demenz anheimgeben. Was heute Antibiotika sind, werden morgen ja wieder Gift und Gammel sein. So ist das in einer profitorientierten Lebensmittelproduktion, die unter Mehrwert nunmal nicht mehr Qualität für weniger Geld versteht, sondern andersrum. Das zugrundeliegende industrielle System setzt auf Masse und ist bis in seine Rechtsverordnungen deshalb schon derart krank, dass die Schräubchendreherei einer Ministerin an der Vergabe einzelner Medikamente nur als Ausdruck von Ohnmacht gewertet werden kann. Und man darf sich fragen, ob der Untergang des Menschen nicht am Ende doch eher aus einer Hühnerfabrik herrührt, als aus einem Forschungslabor. Man darf aber auch mal fragen, was mit dem Verbraucher los ist. Zwischen tierischer Lust und grenzenlosem Hass auf Fleisch scheint der keine emotionalen Zustände mehr zu kennen. Eine nachgerade bipolare Störung, die immer mehr Saisonveganer produziert, aber dem Gegner sonst nur in die Hände spielt: Vor dem Skandal ist nach dem Skandal. Und zwischendurch gibt’s halbe Hähnchen.

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Geschrieben von

Kathrin Zinkant

Dinosaurier auf der Venus

Kathrin Zinkant

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