Verkaufshit Angst

Diagnose: Mensch Besorgte Eltern rüsten mit Sensormatten unter der Matratze gegen den plötzlichen Kindstod auf. Und ahnen gar nicht, was sie erwartet

Objektivität gilt in der Wissenschaft ja als Prämisse. Wie sollte man ohne sie auch zu einer Grundlage rationalen Handelns und Forschens kommen, was ließe sich sinnvoll entscheiden ohne den von emotionaler Gebärde befreiten Blick auf alles, was um uns herum existiert?

Genau deshalb gibt es Messgeräte. Sie sind die materialisierte Form der Objektivierung, vom Thermometer über Blutzuckerteststreifchenleseapparat bis Magnetresonanztomografen erlauben sie, das „Ist“ zu erfassen und sinnvolle Entscheidungen über warme Jacken, medizinische Eingriffe und ganz viel anderes zu treffen. Meistens jedenfalls. Weniger bekannt scheint jedoch zu sein, dass auch Objektivierbarkeit ihre Grenzen hat, und zwar immer dann, wenn es um die Vermeidung von Risiken geht. Und auf solche Grenzen stößt man nicht erst am Zaun von Atomkraftwerken. Für Babybetten etwa gibt es seit einiger Zeit Überwachungssysteme, die sich an der Unterseite der Matratze anbringen lassen und den plötzlichen Kindstod verhindern sollen.

Der plötzliche Kindstod, auch Sudden Infant Death Syndrome (SIDS) genannt, ist klar eine der grausamsten Erfahrungen, die junge Eltern machen können, und sie ist de facto die häufigste Todesursache bei Neugeborenen – obwohl SIDS in absoluten Zahlen trotzdem selten ist. Über die Ursachen wird seit vielen Jahren hektisch geforscht, von Rauchen während der Schwangerschaft über Zigarettenqualm in der Wohnung bis hin zu Überwärmung und Bauchlage des Babys hat man eine ganze Reihe von Risikofaktoren ausgemacht. Sogar die elterlichen Küsschen sollen ge­fährlich sein, weil sie Magenbakterien aufs Baby übertragen könnten. Und wie üblich soll das Risiko auch steigen, wenn die Mutter ihr Kind nicht stillt.

Matratze zu hart?

Die unbefriedigende Quintessenz dieser Vermutungen ist, dass selbst umsichtige Eltern sich nie sicher sein können, und deshalb rüsten sie mit Krankenhaustechnik auf, die jetzt endlich auch im Babyladen und bei Amazon erhältlich ist. Eines der neueren Monitorsysteme besteht aus zwei Sensormatten, die unter die Matratze geschoben werden und von dort registrieren, wenn das Kind unregelmäßig atmet oder sogar zu atmen aufhört. Dann schlägt der Apparat Alarm. Das ganze ist nicht mal teuer – schon für 130 Euro lässt sich Babys Bett in eine Neugeborenenintensivstation verwandeln, was gewiss ein etwas größeres Gefühl von Sicherheit vermittelt als der Rat, sein Baby nicht auf dem Bauch schlafen zu lassen.

Worüber die Hersteller der Anti-Risiko-Appaturen allerdings keine Auskunft erteilen ist, was die Eltern denn zu tun haben, sobald das Gerät wirklich einmal Alarm schlägt. Auch über die tatsächliche Zahl der Babyleben, die jenseits ärztlich betreuter Einrichtungen durch solche Monitore gerettet wurden, schweigen sich die Angebote geflissentlich aus. Aber: Wenig Fehl­alarme. Wobei „keine Fehlalarme“ bestimmt all jenen Eltern lieber gewesen sein dürften, die schon einmal in der traumatischen Erwartung eines sterbenden Babys ans gerüstete Bett gestürzt sind, um später in der Be­dienungsanleitung zu lernen, dass die Matratze wohl zu hart war – und dass der Schutz durch das Gerät ohnehin „begrenzt“ sei.

Dass man nicht genug tun könnte, um Risiken zu minimieren, stimmt eben nicht. Auch dann nicht, wenn die Idee sehr einleuchtend klingt. Wie beim Babymonitor. Und wie zum Beispiel in der Früherkennung von Krebs: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt, Leben gerettet? Unter idealen Voraussetzungen vielleicht. Der Apparatewahnsinn von Volksdarmspiegelung bis Massenmammografie ist trotzdem noch nach vierzig Jahren den Beweis schuldig, dass der Nutzen unterm Strich größer wäre als der Schaden.

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Geschrieben von

Kathrin Zinkant

Dinosaurier auf der Venus

Kathrin Zinkant

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