Was ich kenn, das ess ich nicht!

Diagnose Mensch Lebensmittel sollen künftig genauer über ihre wahre Zusammensetzung informieren. Das ist löblich. Aber bringen wird es: nichts

Urteilsvermögen drückt sich gemeinhin in der Fähigkeit aus, eine Situation nach hinreichender Betrachtung selbstständig einschätzen und eigenverantwortlich handeln zu können. Wie unterschiedlich das auszulegen ist, kann man an wenig befahrenen Kreuzungen mit Fußgängerampel beobachten. Die einen scheren sich nicht um die Ampel, sondern gucken auf den Verkehr und gehen rüber, wenn alles frei ist. Die anderen schütteln über die einen den Kopf, während sie selbst auch dann noch geduldig bei rot stehen bleiben, wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist (und auch kein Kind, das man verderben könnte). Die einen urteilen aufgrund ihres eigenen Urteils, die anderen aufgrund eines Signals als Hilfestellung. Die Straße überqueren können beide.

Nun ist der Straßenverkehr etwas schlichter konzipiert als das Wesen der modernen Nahrungsakquisition, aber eine Ampel hätte man im Supermarkt trotzdem gern gehabt, denn an der roten Ampel, das weiß jedes Kind, bleibt man stehen. An der grünen darf man gehen. Verbraucherschützer waren sich sicher, dass ein Signal für Fett, Zucker und Kaloriendichte dem Verbraucher deshalb hätte helfen können, sich „gesund“ zu ernähren, weil der Verbraucher das auch unbedingt will, aber am Erdbeerjoghurt nicht erkennen kann, dass der in Wahrheit vollgepumpt mit Zucker ist statt Obst. Der rote Zuckerpunkt hätte das deutlich gezeigt.

Nun wurde bekanntlich nichts daraus, weil sich die Lebensmittelindustrie kaum in die Suppe spucken lassen will und zuviele Freunde im zuständigen Ministerium hatte – und hat. Was schade ist, allein deshalb, weil nun niemals bewiesen wird, wie wirkungslos die Ampel ist, und die Ampel-Jünger mit ihrer Idee absehbar wieder auf den Plan treten werden. Dann nämlich, wenn die anderen, von der EU nun beschlossenen und verpflichtenden Kennzeichnungsregeln wie gewünscht ihr Ziel verfehlt haben, das gleichlautend darin besteht, eine „gesunde“ Ernährung zu fördern. Dazu sollen künftig auf die Rückseite der Packung ausgewählte Angaben (Fett, böses Fett, Zucker, Salz) gedruckt werden. Ampelfarben, Schriftgröße und die Einordnung in den Kalorienbedarf sind freiwillig.

Der Witz ist: Das alles gibt es ja längst. Jede Tiefkühlpizza gibt heute ungeniert preis, dass sie viel Fett, viel Salz, viele Zusatzstoffe enthält – und halbiert gut ein Viertel des Energiebedarfs eines körperlich mäßig aktiven Erwachsenen liefert. Und obwohl sich Brüssel nicht einmal jetzt dazu durchringen konnte, die Angabe der Anteiligkeit zur Pflicht zu erheben, schreiben gerade die hochindustriellen Produzenten von Dr. Oetker über Unilever bis hin zu Nestlé schon alle alles drauf. Warum? Weil die Offenlegung von Nährwerten und Zutaten tatsächlich das Gegenteil von dem bewirkt, was sich die Bürokratenseele vorstellen will: Der Konsument zückt keinen Taschenrechner, er holt auch kein Lexikon für Zusatzstoffe aus der Tasche, wenn er einkauft. Er findet die Offenheit gut, und kalkuliert anstatt zugunsten der Gesundheit zugunsten des eigenen Appetits. Wenn daher ein Schokoladenriegel rund 200 Kalorien hat, ist das ja nur ein Bruchteil dessen, was man am Tag essen darf. Steht der Bruchteil auch noch in Zahlen daneben (neun Prozent), umso beruhigender!

Brian Wansink, US-Ernährungspsychologe und Autor von Mindless Eating: Why We Eat More Than We Think, schätzt, dass jeder Mensch täglich 200 Entscheidungen übers Essen fällt. Die erste sollte künftig sein, nur wenige gekennzeichnete Lebensmittel zu kaufen, also wenige Fertigprodukte. Das löst nicht alle Probleme, aber ein wichtiges schon: das Gefühl, durch falsche Signale an der Nase herumgeführt zu werden.

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Geschrieben von

Kathrin Zinkant

Dinosaurier auf der Venus

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