Was an Armut in Deutschland wirklich arm ist

Armutsbericht Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat den neuen Armutsbericht für Deutschland vorgelegt. Beunruhigender als die Zahlen ist aber der Umgang mit armen Menschen

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Betteln ist in der Münchener Fußgängerzone verboten. Armut bleibt oft unsichtbar
Betteln ist in der Münchener Fußgängerzone verboten. Armut bleibt oft unsichtbar

Foto: Kathrina Edinger

Der aktuelle Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverband wurde unlängst vorgestellt und liefert in Zahlen Belege für die Mängel an sozialer Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft: Die Armut nimmt zu auf aktuell 15,5 % aller Bundesbürger und vor allem Alleinerziehende, Rentner und junge Menschen sind von Existenzproblemen betroffen. Soweit die Fakten.

Ich lebe in München. Einer Stadt, die zwar für ihre exorbitanten Mieten bekannt ist, in der man aber grundsätzlich von ganz wunderbaren ökonomischen und sozialen Verhältnissen sprechen kann. München ist eine Stadt, in der die Armutsquote bei lediglich neun Prozent liegt. Vorausgesetzt man berechnet die Quote am mittleren Einkommen aller Deutschen. Berücksichtigt man jedoch das regionale, in München relativ hohe Lohnniveau, liegt die Armutsquote in der Landeshauptstadt im "reichen Süden" bei 18 Prozent. (Quelle: SZ)
Über die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Norden und Süden, über Zahlen und Quoten lässt es sich unter Politikern gut diskutieren. Maßnahmen müssen erörtert werden oder, wie Wolfgang Strengmann-Kuhn von den Grünen etwas kryptisch forderte:

die soziale Sicherung müsse armutsfest gemacht werden.

An den Verhältnissen ändert das allerdings so schnell nichts. Damit meine ich nicht den Hartz-IV-Regelsatz, sondern unser gesellschaftliches Verhältnis zwischen Armen und Reichen in Deutschland. Denn neben existenziellen Problemen, wie zu hohe Miet- und Lebenshaltungskosten, haben doch Arme (und das nun unabhängig ihrer "relativen" Armut) mit dem gesellschaftlichen Umgang zu kämpfen.

In München sieht man wenig Armut. Man muss sie manchmal regelrecht suchen. Ich gucke nicht hinter die verschlossenen Türen von Sozialwohnungen. Ich weiß nicht, wie es ist, als alleinerziehender Elternteil in Neuperlach zwei Kinder großzuziehen. Und die wirklich armen Menschen, die beispielsweise wohnungslos sind, tauchen im öffentlichen Stadtbild kaum auf. U-Bahnhöfe und Zwischengeschosse, Eingänge von Kaufhäusern, Fußgängerzonen - Fehlanzeige.

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Seit ein paar Jahren mache ich mich mit Freunden und einem Bollerwagen regelmäßig auf unsere kleine "Obdi-Runde". Kaffee, Plätzchen oder belegte Semmeln, selbstgestrickte Socken und gebrauchte Winterjacken für die Menschen auf der Straße, die wir finden können. Meistens "schaffen" wir es nicht öfter als ein oder zwei Mal im Jahr. Davon ein Mal vor Weihnachten. Das riecht ein bisschen nach Gutmenschtum, ist wahrscheinlich nicht besonders wirkungsvoll und beruhigt vielleicht mehr mein Gewissen, als dass es anderen Menschen nachhaltig hilft. Aber ich habe aus diesen kleinen Touren etwas gelernt (und lerne jedesmal dazu).

1. Nicht wegschauen fällt auf:

Viele der obdachlosen Menschen sind überrascht, manchmal auch verwirrt, dass jemand mit Thermoskannen und einer Kleinigkeit zu Essen bei ihnen auftaucht. Sie sind auch irritiert, wenn man sie fragt, wie sie gerne ihren Kaffee hätten. Wenn man sie siezt. Wenn man sich für einen Moment auf ihrer Augenhöhe auf die Straße setzt und einen Kaffee mittrinkt.
Mehr Blicke und Irritation ernten wir aber meist von den Passanten. Die Neugier kann ich verstehen. Dagegen habe ich auch nichts. Im Gegenteil: Wenn ein Bollerwagen und ein Kaffee im Pappbecher dazu führen, dass andere hin- statt wegsehen, habe ich ein gutes Gefühl bei der Sache. Wogegen ich etwas habe: die Fragen. Zum Beispiel, von welcher Organisation man sei. Die meisten Menschen können sich offensichtlich ein bisschen Hilfe für einen Unbekannten nur unter dem Etikett Nächstenliebe im Rahmen einer kirchlichen Wohlfahrtsorganisation vorstellen. Oder gegen Fotos: es sind schon so einige Smartphone-Bilder entstanden, ungefragt und versucht unauffällig. Das ist nicht nur rücksichtslos, sondern völlig sinnfrei. Vielleicht frage ich tatsächlich beim nächsten Mal, was der Fotograf gedenkt mit diesem Foto anzufangen.

http://www.kathrinaedinger.de/images/nostreetselfie/IMG_3043.jpg2. Arme Menschen werden oft kriminalisiert und entmenschlicht:

Immer wieder bekommt man auf der Straße Kommentare zu hören, die mich fassungslos zurücklassen. Beliebt sind "freundliche Hinweise", wie dass die junge Frau vor mir auf dem Gehweg doch zu diesen rumänischen Bettlerbanden gehöre und dass man die nicht unterstützen dürfe. Die Tatsache, dass Menschen nicht freiwillig ausgebeutet werden indem sie fernab ihrer Familien und ihrer Heimat auf der Straße vor Handy-Filialen und Souvenir-Shops betteln müssen, scheint manchem Hinweisgeber dabei nicht aufzufallen. Dass ein Kaffee oder ein paar warme Socken diesen vermeintlich kriminellen Hintergrund weder befürwortet noch unterstützt, spielt keine Rolle. Bettelnde Menschen auf der Straße, ob mit Alkoholproblem oder Migrationshintergrund, haben offensichtlich ein Recht auf unser Mitgefühl und unsere Aufmerksamkeit verspielt. Vor lauter vorschnellen Urteilen darüber, warum und wie sich diese Menschen in diese Situation gebracht haben, wird schnell vergessen, was die Situation aus den Menschen gemacht hat.

3. Armut macht krank:

Das Sortiment unseres Bollerwagens muss permanent optimiert werden. Im ersten Jahr sind wir noch (in besagter Vorweihnachtszeit) mit Kaffee, Plätzchen und kiloweise Äpfeln losgezogen. Mittlerweile gibt es vor allem Tee, belegte Brote, zuckerfreie Kekse und vielleicht Mandarinen. Denn die meisten Menschen auf der Straße sind krank: Diabetes gehört dabei zu den häufigsten Krankheiten. Herzprobleme, die den Konsum von Kaffee verbieten, stehen an zweiter Stelle. Und von den Äpfeln haben wir uns verabschiedet, als wir feststellen mussten, dass viele Menschen auf der Straße einfach nicht mehr die entsprechende Zahngesundheit haben, um beherzt mit allen 28 Zähnen zuzubeißen.

http://www.kathrinaedinger.de/images/nostreetselfie/IMG_3057.jpg4. Die Armut liegt vor allem in der Unsichtbarkeit:

Zu sagen, viele Menschen auf der Straße würden keines Blickes gewürdigt, reicht nicht aus. Die meisten Passanten geben sich alle Mühe wegzuschauen. In einer Stadt wie München sind die meisten Menschen auf der Straße unauffällig und passiv. Sie sitzen vereinzelt unter dem Alten Rathaus, an der Mauer der Heilig Geist Kirche oder auf der Sonnenstraße. Früher waren viele, vor allem ältere Leute auf der Sendlinger Straße, gleich auf der Höhe der Schaufenster des Kaufhaus Konen. Wie zum Beispiel eine ältere diabeteskranke Frau im Rollstuhl, die hier recht Wind- und Regengeschützt betteln konnte. Seit Monaten habe ich jedoch an dieser Stelle niemanden mehr gesehen. In München ist es verboten in der Fußgängerzone zu betteln. Seitdem die Sendlinger Straße zur Fußgängerzone umgebaut wurde und vis-a-vis die Einkaufspassage Hofstatt inkl. großer Abercrombie & Fitch Filiale eröffnete (dazu ein kleiner Verweis auf #FitchTheHomeless) sind die armen, wohnungslosen Menschen auch hier aus der Öffentlichkeit verschwunden.
Es klingt absurd, aber ich freue mich jedes Mal, wenn ich ein bekanntes Gesicht auf der Straße wiederentdecke. Denn die meisten verschwinden über kurz oder lang. Vielleicht sind sie in einen anderen Stadtteil abgewandert. Vielleicht in eine andere Stadt. Vielleicht haben sie es doch wieder auf die Beine geschafft. Oder eben nicht.

http://www.kathrinaedinger.de/images/nostreetselfie/IMG_3063.jpgDie Fotos in diesem Artikel stammen aus einer Fotoreporage über Menschen auf der Straße, die ich vor 10 Jahren gemacht habe. Heute kann ich niemanden auf diesen Fotos auf der Straße wiederentdecken. Ich weiß nicht mehr, wie die Menschen heißen, noch was aus ihnen geworden ist. Bei allen Quoten und Berechnungen: das ist arm.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Kathrina Edinger

Freie Journalistin und Historikerin. Schwerpunkte im Bereich Gesellschaft, Jugend, Migration, Zeit- und Kulturgeschichte, v.a. in TV/Film und Hörfunk

Kathrina Edinger

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