In einer Fabrik in Thüringen. Nach und nach versammeln sich Arbeiter und Angestellte in der Halle. Der Betriebsrat lädt zur Betriebsversammlung. Die Maschinen laufen hier Tag und Nacht, produzieren Kleinteile für die westdeutsche Autoindustrie. Die Auftragsbücher sind voll, trotzdem verdienen Andreas und seine Kollegen nur knapp über Mindestlohn. Junge Leute findet der Arbeitgeber kaum noch. Also bekommen neue Angestellte vom ersten Tag an mehr Lohn als die Facharbeiter, die schon Jahre hier sind. Jeder weiß das, trotzdem geht der Kampf um einen Tarifvertrag nur schleppend voran.
Einen Versammlungsraum gibt es nicht, also begrüßt der Betriebsratsvorsitzende seine Kollegen in der Halle, gegen den Lärm der Maschinen anschreiend: „Ihr wisst ja, warum wir heute hier sind!“, die Leute nicken, doch ihre Arme bleiben verschränkt. „Unsere Anträge auf Lohnerhöhung liegen immer noch ohne Antwort auf dem Schreibtisch vom Chef!“
Aus der hinteren Reihe ruft ein Kollege im Blaumann, wie ungerecht es sei, dass die Neuen hier viel mehr verdienten. „Die Neuen“, das sind oft vor allem junge Angestellte. Neben mir senkt eine junge Frau den Kopf und flüstert: „Ich kann doch auch nichts dafür, ich wusste das ja gar nicht, als ich hier angefangen habe.“
Bevor die Stimmung kippt, sagt der Betriebsratsvorsitzende: „Es geht nicht darum, dass die Neuen weniger verdienen sollen, sondern alle mehr! Wir haben jetzt jahrelang gebettelt, es wird Zeit zu kämpfen.“ Einige nicken, vereinzelt wird geklatscht. Eigentlich sollte heute der Chef selbst den Arbeitern Rede und Antwort stehen. Doch obwohl die Betriebsversammlung auf seinen Wunschtermin verlegt wurde, ist keiner aus der Geschäftsführung da.
Neuer Chef, wieder kein Dank
Die Wut ist groß, doch organisieren sich nur wenige in der Gewerkschaft. „Das brauchst du hier gar nicht anfangen!“, ruft mir ein älterer Facharbeiter zu, als ich nach der Betriebsversammlung mit den Arbeitern spreche. „Wir haben alle gekämpft, als sie hier die ganze Bude zumachen wollten, und was hat es uns gebracht? Wir sind übrig, 300 von 3.000.“ Er erzählt mir, wie die Treuhand nur wenige Monate nach dem Ende der DDR die Fabrik verkaufte. Anstatt zu investieren, ließ man die Maschinen abtransportieren. Dann kamen die Massenentlassungen. Die Belegschaft hielt zusammen, besetzte die Fabrik, demonstrierte für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze.
„Der Typ hat das Ding hier für eine Mark gekauft, das war ein Wessi, der hat sich einen Anzug gekauft und eine teure Karre gemietet und einen auf großen Investor gemacht“, sagt ein Facharbeiter. Als Elendsverwaltung beschreiben Gewerkschaftskollegen das, was danach noch möglich war: Stapelweise wurden Widersprüche gegen Kündigungen geschrieben. In Wohnmobilen kampierten ost- und westdeutsche Gewerkschaftssekretäre und -sekretärinnen vor den Betrieben, versuchten zu retten, was zu retten war. Die Entlassenen wurden in Transfergesellschaften aufgefangen, um sie vor der Arbeitslosigkeit zu bewahren.
„Bei einer Demonstration haben wir mal die Treuhand zugemauert“, erinnert sich Gewerkschaftskollege Frank und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Unsere Kollegen vom Bau sind einfach mit dem Lastwagen voller Steine angerückt, und los ging’s.“ Nach dem Lachen ist Ruhe. Und Gedenken an die Zeit, als hier noch Tausende Kollegen und Kolleginnen zusammen gearbeitet haben. Jetzt schauen sie sich in der fast leeren Halle um, wischen sich den Schweiß von der Stirn und klopfen sich auf die Schulter. „Meinen Kindern hab ich gesagt, fangt hier gar nicht erst an mit arbeiten, geht in den Westen“, sagt ein Dreher und blickt auf seine ölverschmierten Finger. „Weißt du, was wir denen hier wert sind? Nicht mal den Dreck unter den Fingernägeln!“
„Denen“, das sind die ständig wechselnden Manager, die immer wieder umstrukturieren, für die der Managerposten aber nur ein Durchlauf ist. Und die in der Politik, die nicht verhinderten, dass ihre Jobs nichts mehr wert sind. „Ich habe hier 1973 angefangen, ich kenne hier jedes Zahnrad. Aber niemand fragt uns, wenn es um Produktionsabläufe geht. Wir müssen ausbaden, was die da oben versemmeln.“ Schon mehrfach stand die Fabrik vor dem Konkurs, jedes Mal kämpften die Beschäftigten darum, dass es weitergeht. Sie verzichteten auf Löhne, machten Überstunden, hofften auf bessere Arbeitsbedingungen, wenn es wieder bergauf geht.
Die Firma macht wieder Gewinn, doch der Dank bleibt aus. Stattdessen wechselt im Zweijahrestakt der Chef und damit immer wieder der Produktionsablauf. Viele sind müde. Die älteren Facharbeiter wissen, dass ohne sie auch der neue Produktionsleiter keine einzige Maschine zum Laufen bringen könnte. Dennoch bleiben sie, wenn die Auftragslage es so will – zum Unverständnis der Auszubildenden. „Ich kann von meinem Ausbildungsgehalt nicht mal mein Benzin für den Monat bezahlen, um auf Arbeit zu kommen“, sagt ein Auszubildender in der Gießerei. „Eigentlich müsste man ab der Hälfte des Monats zu Hause bleiben, weil das Geld für den Sprit alle ist“, kontert sein Ausbildungskollege. An Auszug aus dem Elternhaus ist nicht zu denken. Die Arbeit ist anstrengend. Die beiden sagen, sie seien nicht bereit, ihr Leben für den Betrieb zu opfern. Dem älteren Kollegen, der sie zum Weiterarbeiten antreiben will, schlagen sie den Arm um den Hals und stecken ihm einen Mitgliedsantrag für die Gewerkschaft in die Brusttasche der Latzhose.
Viele Junge gehen, statt zu kämpfen. Einer, der bleibt und weitermachen will, ist Uwe: 20 Jahre jünger als die meisten seiner Kollegen, trotzdem Betriebsratsvorsitzender. Der Einzige hier, der einen Laptop bedienen kann. Und einer der wenigen, der den Kontakt zur Gewerkschaft aufrechterhält. Er hat sich in die Gesetzesbücher eingearbeitet und wieder Schwung in den Betriebsrat gebracht. Doch dessen Beschlüsse werden vom Arbeitgeber ignoriert, der Betriebsratsvorsitzende vermehrt auf Montage ins Ausland geschickt.
Noch engere Deadlines
Anderer Ort, in einem thüringischen „Investitionsbetrieb“: automatische Türen, Gänge in weißem Hochglanz. Die meisten tragen hier keinen Blaumann, sondern Kittel. Der Name des Unternehmens verspricht Tradition und Regionalität, das Bild der Gründer ziert jeden Besprechungsraum, wer hier angestellt ist, arbeitet nicht nur für die Firma, sondern ist die Firma.
Doch hinter der Marke steht eine internationale Holding, der ursprüngliche Betrieb wurde in viele Einzelfirmen zerteilt. „Es war schon zu DDR-Zeiten etwas Besonderes, hier zu arbeiten“, erzählt ein Ingenieur und Betriebsratsmitglied. Doch trotz hoher Investitionen in die Firmengruppe am ostdeutschen Standort spüren die Beschäftigten davon nichts. Außer noch engeren Deadlines. Bei vielen ist die Belastungsgrenze erreicht, es keimt zunehmend Widerstandsgeist in der Belegschaft auf. „Wir haben hier davon gar nichts, wir machen alle dauerhaft Überstunden, uns wird erzählt, die Firma könne nicht anders – und gleichzeitig werden hier Millionen investiert“, sagt ein junger Angestellter. Tarifvertrag ist hier Tradition, genauso ein Betriebsrat auf Augenhöhe mit der Unternehmensführung. Der Frust der Angestellten ist dennoch groß. Die Arbeitsverdichtung trifft jeden, bis ins Familienleben, Burn-out ist kein Modewort, sondern Hauptgrund für einen hohen Krankenstand.
Obwohl sich die meisten kennen, werden sie künstlich in Projektteams in Konkurrenz zueinander gesetzt. Statt zusammenzuhalten, steigt der Druck untereinander.
Aber: Vor allem die Angestellten unter 40 sind nicht mehr bereit, diesen Preis dauerhaft zu zahlen. Nicht nur die vom Betriebsrat bewilligten Überstundenanträge liegen vielen schwer im Magen, die Wut richtet sich auf eine Zahl: 38. Denn noch immer müssen die Beschäftigten im Osten für das gleiche Geld drei Stunden mehr in der Woche arbeiten als ihre Kollegen im selben Unternehmen am westdeutschen Standort. Im Westen in den 1980er Jahren gewonnen, wurde dieser Kampf im Osten in den frühen 2000er Jahren verloren. Die Firma plant das neue Hightech-Gelände. Die Beschäftigten den Aufstand. „Die Wende ist jetzt fast so alt wie ich, und wir sind immer noch Arbeiter zweiter Klasse!“, sagt ein junger Ingenieur. Er ist zwar schon lange Gewerkschaftsmitglied, aber war sonst nicht aktiv. Bis jetzt. Seitdem das Ziel der 35-Stunden-Woche steht, ist er derjenige, der mit einer Kollegin die Abteilung mit Gewerkschaftsflyern füllt, mit den Kolleginnen und Kollegen redet und in Mitgliederversammlungen das Wort ergreift, gegen den Arbeitgeber, aber auch gegen den Betriebsrat. „Es reicht!“ ist der Slogan der Kampagne. Statt ritualisierter Warnstreiks gab es eine Demo, die mehr Beschäftigte auf die Straße brachte als in den frühen 1990ern. Der Wille, sich zu zeigen, wächst. Mit Buttons bekennen sich die Menschen zur Mitgliedschaft im Betrieb, Flyer und Klebezettel zieren fast jede Tür. Keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Zeichen, dass nicht nur die Wut wächst, sondern auch der Mut.
Jetzt ist nicht die Zeit, die Arbeiter und Arbeiterinnen in Ostdeutschland aufzugeben, auch wenn die Wahlergebnisse abschrecken. Der erneut aufgeflammte Kampf für die 35-Stunden-Woche zeigt, dass die Zeit der gewerkschaftlichen Auseinandersetzung nicht vorbei ist, im Gegenteil. Vorbei ist jedoch der Glaube der ostdeutschen Belegschaften, dass jemand für sie kämpft. Nicht Idealismus treibt die Leute an, sondern der Frust, dass es Zeit wird, dass auch sie zählen. Einzelne Belegschaften haben sich gegen große Widerstände die 35-Stunden-Woche erkämpft und zeigen, dass es geht. Doch viele bleiben zurück. Nur, wenn wir mit ihnen gemeinsam für gerechtere Arbeits- und Lebensbedingungen auch im Osten kämpfen, nehmen wir den Rechten den Wind aus den Segeln.
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