In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Gastbeitrag Katja Kipping kommentiert die Verhandlung beim Bundesverfassungsgericht über die Hartz IV-Sanktionen
Hält nichts von repressiver Hartz-IV-Logik: Katja Kipping
Hält nichts von repressiver Hartz-IV-Logik: Katja Kipping

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Die fast neun Stunden andauernde mündliche Verhandlung zeigte deutlich, wie die Bundesregierung versucht, das Hartz-IV-Sanktionsregime schönzufärben. Die Auffassung des juristischen Vertreters der Bundesregierung, dass Sanktionen einen Beitrag zur Sicherung der Menschenwürde leisten, weil sie die Bereitschaft zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit „fördern“, stieß auf Widerspruch einiger Richter*innen. Für den Vertreter der Bundesregierung galt die „freie“ Entscheidung zwischen dem Verlust der Existenz- und Teilhabesicherung, also Strafen mit der Existenznotpeitsche, und dem Beugen gegenüber staatlichen Anforderungen an das Wohlverhalten als Ausdruck eigenverantwortlichen Handels. Eine völlige Umkehrung dessen, was selbstbestimmtes und damit auch selbstverantwortliches Leben ausmacht. Es bleibt zu hoffen, dass die Richter*innen des Bundesverfassungsgerichts nicht der Auffassung der Bundesregierung folgen. Die kritischen Bemerkungen und Nachfragen der Richter*innen stimmen optimistisch.

Zur Person

Katja Kipping ist seit 2012 gemeinsam mit Bernd Riexinger Vorsitzende der Partei die Linke

Heftig kritisiert wurde von einigen Richter*innen auch, dass die Bundesregierung keine ausreichenden empirischen Befunde über die Auswirkungen von Sanktionen bei Hartz IV vorlegen konnte. Für Unmut sorgte ebenfalls, dass den Vertreter*innen der Bundesregierung nicht einmal bewusst war, dass selbst für schwangere Frauen kein Schutz vor Sanktionsandrohungen besteht, wie die Diakonie darlegte.

Das, was von der Seite der Bundesregierung, vertreten durch den Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, an Argumenten für das repressive Hartz-IV-Sanktionsregime vorgetragen wurde, zeigte mir die komplette Ignoranz der grundrechtlichen Erfordernisse an die Sicherung der Existenz und Teilhabe der Menschen. Grundsicherungen, die unter Sanktionsvorbehalt stehen, sind Ausdruck einer Sozialstaatskonzeption, die auf Entmündigung der Bürger*innen setzt.Sanktionen und Sanktionsandrohungen verletzen das Menschenrecht auf ein Leben in Würde, weil es den direkt und indirekt betroffenen Menschen das Recht auf Selbstbestimmung und selbstverantwortbares Handeln nimmt. Menschen werden mit angedrohten oder vollzogenen Kürzungen oder gänzlichen Streichungen des Existenz- und Teilhabeminimums zum Objekt staatlicher Repressionsmöglichkeiten.

In dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zu den Regelsätzen von 2010 ist dagegen dargelegt, dass das grundrechtlich geschützte Existenz- und Teilhabeminimum so ausgestaltet sein muss, das es stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf deckt. Das Grundrecht auf ein Existenz- und Teilhabeminium ist „dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden“, heißt es weiter in diesem Urteil. Außerdem verletzen Sanktionen das völkerrechtliche Verbot der Zwangsarbeit. Dies hat eine Studie der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung verdeutlicht; erarbeitet von Max Kern, dem ehemaligen Leiter der Sektion Zwangsarbeit der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) – eine Studie also aus berufenem Munde. Darin wird dargelegt, dass die Sanktionen nach § 31 Sozialgesetzbuch II (Hartz IV) völkerrechtswidrig sind.

Die vielen Stellungnahmen der Betroffeneninitiativen, der Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften zum Thema Sanktionen zeigten den Bundesverfassungsrichter*innen eine ganz andere Welt, als die des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Dies wurde von den Richter*innen mehrmals festgestellt. Hubertus Heil hatte während der mündlichen Verhandlung enttäuscht. Er sollte die Befassung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Thema Sanktionen als Chance begreifen und sie dafür nutzen, sich endlich von der repressiven Hartz-IV-Logik zu lösen.

Wann und wie das Bundesverfassungsgericht über die Sanktionen entscheiden wird, ist ungewiss. Es bleibt zu hoffen, dass die Richter*innen sich von der Bundesregierung kein X für ein U vormachen lassen. Letztlich wird es beim Thema Sanktionen aber auf die politischen Mehrheiten in Deutschland ankommen: Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der Menschen unter Androhung des Entzugs der die Existenz und Teilhabe sichernden Mittel leben müssen? Oder wollen wir in einer Gesellschaft mündiger Bürger*innen leben, die sich selbstverantwortlich in die Gestaltung des Gemeinwesens einbringen können, ohne Angst vor Not, Armut und Ausgrenzung?

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