Mehr Widerstand wagen

Umdenken Die Chefin der Linken Katja Kipping plädiert für zivilen Ungehorsam, um politische Ziele zu erreichen
Ausgabe 21/2016
Anti-G7-Protestler in Garmisch-Patenkirchen, Sommer 2015
Anti-G7-Protestler in Garmisch-Patenkirchen, Sommer 2015

Foto: Carl Court/Getty Images

Sollte noch jemand Zweifel gehabt haben, so haben die – auch für meine Partei – bitteren Ergebnisse der Landtagswahlen im März gezeigt: Unsere Gesellschaft verändert sich rasant. Und sie droht nach rechts zu kippen. Im Schatten von Angela Merkels marktkonformer Demokratie und der Hoffnungslosigkeit, die sie ausstrahlt, wuchert inzwischen in ganz Europa ein abstoßender Nationalismus. Gleichzeitig haben wir es aber nicht nur mit einem Rechtsruck zu tun: So viele Menschen wie schon lange nicht mehr sind in Initiativen der Flüchtlingshilfe, für soziale Gerechtigkeit im Stadtteil, gegen das Freihandelsabkommen TTIP oder für eine Energiewende aktiv. Unsere Gesellschaft polarisiert sich: Gegen die Ideologie des neoliberalen „Weiter so“ und die Hassprediger eines rechten Populismus engagieren sich Unzählige – und werden dennoch öffentlich kaum wahrgenommen. Sie haben diese Unsichtbarkeit im politischen Diskurs nicht verdient.

Heute stehen daher alle fortschrittlichen Bereiche der Gesellschaft in der Verantwortung, einer neuen Solidarität zum Durchbruch zu verhelfen. Es gilt, gemeinschaftlich das „jeder gegen jeden“ zu bekämpfen. Am besten mit der gemeinsamen Vorstellung von einer Zukunft, an die man wieder glauben kann und einer Idee, für die es sich zu streiten lohnt. Bernd Riexinger und ich haben deshalb den Begriff einer „Revolution der Gerechtigkeit“ in die Diskussion gebracht. Das mag dem einen oder anderen angesichts der gesellschaftlichen Polarisierung vermessen erscheinen. Es beschreibt aber nur das, was jetzt zu tun ist. Denn es braucht heute tatsächlich eine Revolution der Gerechtigkeit – also eine massive Umverteilung, einen New Deal. Nicht aus Prinzip oder weil sich das so schön bedeutungsschwanger anhört. Es braucht diese Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, um auch nur das Mindeste von dem, was angesichts der zahlreichen sozialen, ökologischen und politischen Krisen des Kapitalismus nötig ist, überhaupt schaffen zu können.

Das Problem der Linken

Wir müssen den massiven Reichtum begrenzen und unserer Gesellschaft die Zeit zum Arbeiten an Alternativen zum Krisenkapitalismus verschaffen. Das ist nicht radikal, sondern vernünftig. Natürlich ist eine solche politische Revolution nicht bloß eine Frage der besseren Argumente. Es ist auch eine Frage der Kräfteverhältnisse, der Kämpfe und Bündnisse. Es ist eine Machtfrage. Und das markiert ein weiteres Problem einer gesellschaftlichen Linken.

Denn wir alle wissen ja, dass der Kahlschlag der Sozialsysteme, die Entwertung des Arbeitslebens für den Profit von wenigen, der Raub von Zuversicht und Glück ein Produkt einer Politik der Verachtung sind. Die CDU steht wie keine andere Partei für diese Politik der sozialen Kälte. Sie ist mitverantwortlich dafür, wenn in diesem reichen Land Menschen verzweifelt sind und den Ausweg in populistischen Scheinangeboten auf Kosten von anderen suchen. Aber auch die SPD hat die Flexibilisierung der Märkte, der Arbeit und der Sozialleistungen zusammen mit den Grünen erst ermöglicht. Und beide Parteien machen bisher wenig Anstalten, sich von diesem Weg zu lösen. Im Gegenteil: Jede Fortführung der Großen Koalition, jedes schwarz-grüne Bündnis bedeutet nur die Fortsetzung der Mangelverwaltung. Damit erweist man der Demokratie einen Bärendienst.

Zur Person

Katja Kipping, 38, ist seit 2005 Mitglied des Bundestages. Gemeinsam mit Bernd Riexinger ist sie seit 2012 Vorsitzende der Linkspartei. Am Wochenende treffen sich die Delegierten zum Parteitag in Magdeburg. Dort kandidiert Kipping erneut für den Parteivorsitz

Foto: Anke Illing/photocultur

Dabei sind die programmatischen Grundlagen eines linken Aufbruchs gar nicht so schwer zu bestimmen. Die Herausforderungen von Umwelt- und Klimaschutz gehen uns alle an. Nur notorische Klimawandel-Leugner können noch glauben, dieser Frage ungestraft zu entkommen. Schon jetzt führen der Raubbau an der Natur und die Erderwärmung zu immer mehr Flucht und Vertreibung. Das trifft nicht nur die Menschen in den Ländern des globalen Südens, sondern auch uns ganz unmittelbar. Zum Beispiel, wenn wir darüber nachdenken, wie eine Gesellschaft nach dem Ende der klassischen Industrieproduktion aussehen kann. Welche Arbeit gibt es dann noch für wen? Wie kann eine nachhaltige Wirtschaftsweise entwickelt werden, die nicht nur das Privileg einer Green Economy der Besserverdienenden bleibt, sondern soziale Gerechtigkeit und ökologische Konversion als einen Solidarpakt zugunsten kommender Generationen begreift?

Zudem muss die gesamte Linke Mut aufbringen, sich dazu zu bekennen, dass diese Herausforderungen in den althergebrachten Kategorien nationaler Souveränität nicht zu lösen sind. Gerade in den Großstädten gibt es eine neue rebellische Generation junger Menschen, die versucht, im Einklang mit den natürlichen Ressourcen zu leben. Für diese mit der Globalisierung aufgewachsenen Menschen bedeutet soziale Gerechtigkeit gleichzeitig auch globale Gerechtigkeit. Für dieses widerständige Milieu, dass sich gegen technologische Großprojekte oder für den Ausstieg aus der Kohleverstromung mit großer Kreativität engagiert, muss eine progressive linke Politik überzeugende Zukunftskonzepte vorlegen. Zum einen gilt es, den Strukturwandel in den Industrieregionen zu bewältigen, ohne dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeiter in den ohnehin oft strukturschwachen Regionen endgültig ins soziale Abseits gestoßen werden; zum anderen müssen wir neue soziale Bande der Solidarität knüpfen.

Wer behauptet, diese gesellschaftlichen Vorhaben wären allein mit kosmetischen Korrekturen zu meistern, der irrt gewaltig. Auch wir scheuen nicht selten, den Schritt ins Offene und Unbekannte zu machen. Aber das fehlende Vertrauen, etwas ändern zu können, gekoppelt mit einem Gefühl des Ausgeliefertseins, führt zum Rückzug aus dem sozialen und politischen Raum. Hannah Arendt charakterisierte dieses Phänomen als eine Furcht, die eben kein Prinzip des Handelns ist, sondern eine Verzweiflung, nicht handeln zu können. Denn die Angst, dass sich etwas verändert, ist zugleich auch eine Angst davor, selbst etwas ändern zu wollen – die zu einer fatalen Haltung der Besitzstandswahrung führt.

Genau an dieser Stelle setzt der Rechtspopulismus an. Viele wählen nicht mehr und wenn sie, wie zuletzt im März, die AfD wählten, dann glaubten sie, dass die Abschottung vor der globalisierten Welt und die Abwehr der Eingewanderten der Schlüssel zu einem sicheren Leben wäre. Welche dramatischen Folgen eine solche antiliberale und protektionistische „Anti-Eliten-Politik“ haben kann, hat sich gerade bei der österreichischen Präsidentenwahl gezeigt. Der dortige Rechtspopulismus hat das Land faktisch gespalten.

Mit den Wahlerfolgen der AfD scheint nun der Rechtspopulismus auch hierzulande eine feste Adresse im Parteienspektrum zu haben. Zum einen propagiert die AfD nationalistische und rechte Gedankenwelten sowie ein reaktionäres Frauen- und Familienbild; zum anderen aber fühlen sich aber viele Menschen in dieser Gesellschaft, besonders die Armen und die sogenannten Abgehängten, angesprochen. Sie alle haben das Gefühl, dass ihre Stimmen schon längst nicht mehr gehört werden. Hier müssen wir neu hinhören und neue Angebote der sozialen Teilhabe und der direkten Hilfe machen. Nicht um den Rechtspopulisten nach dem Mund zu reden. Im Gegenteil: um zu verdeutlichen, dass wir nur zusammen etwas ändern können und dass der von der AfD propagierte Tritt gegen alles „Fremde“ nichts anderes ist als eine Verlagerung des Konkurrenzkampfs von oben nach unten, anstatt das eigene Leben zu verbessern.

Und wir sollten auch über unkonventionelle Maßnahmen nachdenken. Warum die Praxis des gewaltfreien zivilen Ungehorsams nur bei Blockaden von Naziaufmärschen nutzen und nicht auch beim Gang auf die Sozialbehörden, beim Kampf gegen den Mietwucher oder für mehr Kindergartenplätze? Auch wir als Linkspartei brauchen neue, offensivere Protestformen im sozialen Alltag, die greifbare Erfolge für die Einzelnen und damit auch exemplarisch Mut und Zuversicht für alle erstreiten können.

Rot-Rot-Grün ist machbar

Soziale Sicherheit muss heute im Vorwärtsgang verteidigt werden. Es ist der Auftrag der politischen Linken, diese Veränderungen im Alltag zu erreichen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Denn die Parteien selbst sind nicht mehr identisch mit den Bedürfnissen ihrer Milieus nach Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit. Es gibt viele Wählerinnen und Wähler der SPD und der Grünen, die sich ein sozialeres, ein gutes Land für alle wünschen – und das gälte selbst dann noch, wenn man alle „Schwarz-Roten“ und „Schwarz-Grünen“ abziehen würde.

Wenn also das Führungspersonal der anderen Parteien nicht willens ist, eine ökologisch-soziale Wende in dieser Gesellschaft in Angriff zu nehmen, dann ist es die Aufgabe der Linkspartei, dafür den notwendigen gesellschaftlichen Druck zu entfalten. Ohne unsere Initiative wird es ein neues Rot-Rot-Grün nicht geben. Aber anders als noch vor ein paar Jahren können wir uns auch nicht mehr additiv als linker Mehrheitsbeschaffer anbieten. Jetzt müssen wir selbst den gesellschaftlichen Impuls für ein neues linkes Lager schaffen, das die Vorraussetzungen für ein rot-rot-grünes Regierungsprojekt neu auszuhandeln hat. Das ist gut und nicht schlecht, denn es holt die Frage nach einer linken Regierungsmehrheit aus dem Parlament in die soziale Wirklichkeit zurück.

Viele Menschen in diesem Land, die schon handeln, sind bereits dabei, ein Lager der Solidarität, des Widerstands und des Engagements jenseits der traditionellen Parteienanbindung zu konstituieren. Eine neue linke Mehrheit entsteht nur mit diesen Milieus. Die Aufgabe ist es, diesem gesellschaftlichen Lager einen politischen Ausdruck zu verschaffen. Unrealistisch ist das nicht. Utopisch ist angesichts des Hungers nach Gerechtigkeit und der skandalösen globalen Ungleichheit nur der Glaube, alles könne einfach so weitergehen.

Realistisch ist dagegen, das vermeintliche Unmögliche ins Auge zu fassen: Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Eine moderne Linke hat die Aufgabe, die schöpferischen Kräfte der Gesellschaft zur Entfaltung zu bringen. Es geht darum, in diesem Sinne die gesellschaftliche Machtfrage neu zu stellen – in den Parlamenten, in den Städten mit ihren sozialen Brennpunkten und in den gesellschaftlichen Bewegungen. Wir sind dazu bereit. Wer ist es noch?

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