Aktuell erschallt vielerorts der Ruf nach Integration. Nun wäre eine ernsthafte Debatte darüber, wie das Zusammenleben verschiedener Menschen gut organisiert werden kann, durchaus zu begrüßen. Mehr als überfällig wäre zudem, gemeinsam darüber zu beraten, wie die Angriffe auf den Gleichheitsgrundsatz abgewehrt werden können, denn leider wird zunehmend gegen diesen Grundsatz des Grundgesetzes verstoßen. Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes besagt: dass niemand „wegen seines Geschlechts … oder seiner Herkunft, seiner Hautfarbe diskriminiert werden darf“. Das Grundgesetz ernst nehmen hieße also, Sexismus und Rassismus gleichermaßen zu bekämpfen, es gleichermaßen gegen islamistische Fundamentalisten wie gegen deutsche Rassisten zu verteidigen.
Leider geht die dominierende Problembeschreibung in Politik und Medien gegenwärtig an dieser Fragestellung vorbei, schon allein, weil die explodierende rassistische Gewalt eher in Fußnoten behandelt wird, während die Übergriffe der anderen auf den Titelseiten besprochen werden. Auch infolgedessen bekommen die Debatten um Integration eine auffällige Schieflage. Wann immer in den letzten Monaten das Wort Integration verwendet wurde, lief es darauf hinaus, dass sich die Geflüchteten bzw. die Asylbewerber und -bewerberinnen anpassen müssen – und zwar an die deutsche Kultur, die dann gleich mal zur Leitkultur erhoben wurde.
Doch gibt es das überhaupt, die eine deutsche Kultur? Ich bin groß geworden mit den großartigen Werken von Goethe, Christa Wolf und Schiller. Aber alles, was ich aus dieser Lektüre verinnerlicht habe, nährt mein Unbehagen angesichts der Ausrufungen einer deutschen Leitkultur.
Wie bitte sieht diese denn aus? Nehmen wir nur mal zwei in Deutschland sehr beliebte Festivitäten: das Oktoberfest und die Fusion, das Festival des Partykommunismus. Beide locken jeweils Unmengen von Menschen mit deutschem Pass an und scheinen doch kulturell von jeweils unterschiedlichen Sternen zu kommen. Sowohl was die bei beiden Festivitäten laufende Musik, die jeweils bevorzugte (Ver-)Kleidung, die angebotenen Speisen sowie die jeweils vorrangig konsumierten Rauschmittel anbelangt. Beide Festivitäten sind prägend für unterschiedliche kulturelle Milieus in Deutschland. Und die meisten Besucher und Besucherinnen der einen Festivität stehen fassungslos vor der Attraktivität, die das andere Ereignis auf Menschen ausübt. Auf keinen Fall kann ernsthaft behauptet werden, dass sich Fusion und Oktoberfest kulturell näher seien als bayrisches Bierzelt und marokkanische Teestube.
Das ist nur ein Beispiel von vielen, welches verdeutlicht: Die Vorstellung einer homogenen nationalen Kultur hat in der Lebenswirklichkeit keine wirkliche Entsprechung. Die Gesellschaft setzt sich aus ganz verschiedenen, einander überlappenden kulturellen Welten zusammen. Wenn man diese künstlerisch darstellen würde, käme wahrscheinlich eine Art kubistische 3-D-Installation heraus, die sich beständig im Wandel befindet.
Glaubensflüchtlinge
Auch ein Blick in die Geschichte lehrt, dass Reinheitsgebote in Bezug auf Kultur nicht angebracht sind. Migration und die damit einhergehende kulturelle Hybridisierung sind der historische Regelfall. Der Homo sapiens ist immer auch „Homo migrans“. Die Spuren dieser Wanderungserfahrungen prägten sich so tief in Gesellschaften ein, dass sie erst mühsam freigelegt und rekonstruiert werden müssen, um wieder sichtbar zu werden.
Mentale und geografische Landschaften werden durch Migration geformt, Siedlungsräumen ist ihr Stempel aufgedrückt. Wer heute an der Oder und am Niederrhein in die Ferne blickt, denkt in der Regel nicht daran, dass es Glaubensflüchtlinge waren, die diese Regionen in der Frühen Neuzeit urbar gemacht und ihnen ihre heutige Gestalt gegeben haben.
Daran, dass das Potsdamer Holländerviertel einst ein Migrantenviertel und der Französische Dom am Berliner Gendarmenmarkt eine „Migrantenkirche“ war, erinnert heute nur noch der Name. Aus den Nachkommen von Deutsch-Rixdorfern und Böhmisch-Rixdorfern sind mittlerweile gleichermaßen Neuköllner geworden, die im Zweifelsfall die nächste Migrantengeneration zunächst als „fremd“ wahrnehmen.
Um ein weiteres Beispiel aus der Geschichte zu benennen: Zwar beschwerten sich auch vor 300 Jahren sächsische Bürger über die Ansiedlung von „refugirten französischen Manufacteurs“. Es sei „sattsam bekandt, daß diese Nation sich mit denen andern gar schlecht comportiren könne…, woraus nichts Gutes erfolgen kann“. Gänzlich unbeeindruckt von solchen Einschätzungen schuf in derselben Zeit der Franzose Louis de Silvestre in Dresden als Hofmaler die Deckengemälde im Brühl’schen Palais sowie im Zwinger und baute sein Landsmann Raymond Leplat das Taschenbergpalais.
Statische Nationalkulturen sind nachträglich geschaffene Konstruktionen, die durch bewusste Auslassungen entstehen.
Im Zuge der technologischen Entwicklung hat sich der Austausch zwischen unterschiedlichen Regionen dieser Welt noch vervielfältigt. Dank sozialer Netzwerke nehmen Menschen faktisch in Echtzeit an Ereignissen teil, die in anderen Zeitzonen stattfinden. Die Globalisierung der Wirtschaft trägt (wahrlich nicht immer zum Vorteil für die lokale Wirtschaftsstruktur) das Übrige zum Austausch bei. Ein realistischer Blick auf Kultur zeigt: Die Idee einer an eine Nation gebundenen Leitkultur ist eine Schimäre. Kultur ist beständig im Wandel.
Der französische Anthropologe Marc Augé entwirft in seiner Schrift Die illusorische Gesellschaft eine besondere Vision: Danach kann „jedes Individuum als eine originelle und einzigartige Synthese aus den Kulturen der Welt“ definiert werden. Jede konkrete in einem Moment eingefangene Kultur stellt also lediglich eine Momentaufnahme einer Synthese der Kulturen der Welt dar. Insofern braucht keine Kultur – weder in Europa noch in Deutschland noch in irgendeinem imaginären Abendland – den Schutz vor dem angeblichen Fremden. Denn über die Sedimente der Geschichte und über die modernen Technologien des Austausches findet die permanente Neuzusammensetzung wie in einem Prisma sowieso beständig statt.
Statt von Leit- und Nationalkulturen sollten wir also von liquiden, sich beständig verändernden Kulturen im Plural ausgehen. Ihr Wandel ist gelegentlich durchaus mit Konflikten und Auseinandersetzungen verbunden, aber er ist nicht an sich bedrohlich, sondern Ausdruck ihres Reichtums und ihrer Lebendigkeit.
Humanressourcen
Der Demografieforscher der Universität Florenz, Massimo Livi Bacci, spricht davon, dass wir die „schlimmste und schizophrenste aller Entscheidungen“ treffen würden, wenn wir weiter „eine de facto offene Gesellschaft mit einer Politik verwalten, die für eine geschlossene Gesellschaft entworfen wurde“. Denn ein solches schizophrenes Verwaltungsmodell ist verhängnisvoll. Unter humanen Aspekten ist es eine Zumutung, unter kapitalistischen Bedingungen eine permanente Krisenressource. Ob Wirtschafts-, Umwelt-, Bürgerkriegsflüchtlinge oder Asylsuchende – Bacci pocht in seinem Buch nicht nur darauf, sondern macht plausibel, dass Migration eine der wesentlichen Antriebskräfte der Menschheitsgeschichte ist, eine, nun ja, „Humanressource“.
Denn ja, die Geflüchteten – sie sind Humanressourcen. Doch ganz anders, als die Hans-Werner Sinns dieser Republik es sich in ihrer neoliberalen Verblendung vorstellen wollen. Nicht als billiger Rohstoff, der in der Konkurrenz von Standorten als Arbeitskraft verbraucht werden kann, sondern als eine elementare Möglichkeit: als die Gelegenheit für uns alle, Mensch zu sein – und als Menschen zu handeln.
Und das ist immer noch die kulturvollste Art, Kultur zu würdigen: Den Einzelnen, den anderen als Menschen anzuerkennen.
Info
Am 1. 2. erscheint Wer flüchtet schon freiwillig von Katja Kipping (Westend). Der Text ist eine leicht überarbeitete Passage aus dem Buch der Vorsitzenden der Linken
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