In ein paar Jahren dürfte der „Fall Dolezal“ im Kino laufen. Zu vielschichtig der Plot, zu widersprüchlich seine Protagonistin, zu emotionalisierend der Stoff, als dass sich Hollywood das entgehen lassen könnte. Womöglich wird die Story eines Tages auch in US-Schulen im Geschichtsunterricht besprochen. Als Schlüsselmoment für einen gesellschaftlichen Wandel. Als der Augenblick, in dem ein Umdenken begann, endlich auch auf den populären Kanälen, bei der sogenannten breiten Masse. #wrongskin („falsche Haut“) heißt das Hashtag, mit dem Tausende derzeit ihre Solidarität und ihre Beunruhigung, ihre Wut und ihre Fragen, ihre wie auch immer geartete innere Beteiligung am „Fall Dolezal“ markieren.
Die Eckdaten, wie sie dies- und jenseits des Atlantiks erzählt werden: Die Aktivistin Rachel Dolezal kämpfte jahrelang gegen den Rassismus in der US-Gesellschaft, engagiert, ernsthaft. Dann stellte sich heraus: Die Frau mit der Afrofrisur ist als Weiße geboren. Mit Dauerwellen und Bräunungscreme hat sie sich als „schwarze Frau“ nur verkleidet. Ohne dies aber jemals zu thematisieren oder ihre Kollegen bei der NAACP, derNational Association for the Advancement of Colored People einzuweihen.
Während die Verblüffung und die Empörung die US-Öffentlichkeit noch beschäftigten, stürmte ein 21 Jahre junger weißer Mann im Bundesstaat South Carolina in eine von Schwarzen besuchte Kirche und erschoss neun Menschen (siehe S. 9). „Aus Hass“, wie er später zu Protokoll gab. Unterdessen ermittelte die Washington Post: Zwei Drittel der seit Jahresanfang registrierten Opfer von US-Polizeigewalt waren Nichtweiße – people of color.
Der „Fall Dolezal“ wirft nun ein weiteres Schlaglicht auf den Rassismus – und das Entscheidende ist, dass er das aus einer ungewohnten Perspektive tut: Er handelt im Wesentlichen vom Weißsein.
Nur Denkfiguren
„Der Fall Dolezal ist eine Sache der Weißen“: Das klingt zunächst wie ein weiterer Übergriff aus der selbsternannten white supremacy, wie ein weiterer Akt der Kolonisierung. Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass die Autorin dieses Beitrags selbst weiß ist. Sie ist sich bewusst, dass sie qua Hautfarbe privilegiert ist. Sie begreift sich als Antirassistin und hat verstanden (glaubt sie, hofft sie), dass sie vieles falsch macht, wenn sie sich zu Rassismus äußert. Weil sie es nur von außen tun kann, nur aus der Herrschaftsperspektive. Weil sie mit ihren weiß geprägten Denkfiguren die Verhältnisse womöglich noch fortschreibt – obwohl sie gerade das Gegenteil will.
Der letztgenannte Punkt entspricht in etwa den Vorwürfen, die auf Rachel Dolezal einhageln. Anmaßung, Geschmacklosigkeit, Rassismus in antirassistischem Gewand, legt man ihr zur Last. Viele vergleichen die Mimikry der Aktivistin mit dem blackfacing, mit der unseligen Tradition aus den Minstrel-Shows des 19. Jahrhunderts, bei denen Weiße sich schwarz schminkten, um sich über die anderen lustig zu machen. In falsch verstandener Solidarität habe Dolezal sich eine fremde Identität angeeignet – die sie allerdings jederzeit wieder ablegen könne, sagt etwa der afroamerikanische US-Theologe Broderick Greer. „Nur ein weißer Mensch kann so viel Aufmerksamkeit bekommen fürs Schwarzsein“, twitterte Greer. Er schrieb auch: „Dolezal zeigt uns, wie dumm die Konstruktion von race ist.“
Tatsächlich ist das ein positiver Effekt des Skandals: Der Begriff race ist nun wieder einmal breit dekonstruiert worden, klar und deutlich, auch in den Mainstreammedien: Es gibt – wissenschaftlich unbestritten – keine genetisch bestimmbaren „Rassen“ unter den Menschen. Die „Rasse“ ist der Mensch an sich. Die UNESCO weist seit den 1950er Jahren darauf hin, dass der Begriff race lediglich als soziokulturelle Kategorie dienen kann, ähnlich, wie wir heute den Begriff gender verwenden. (Siehe dazu den Beitrag Identität ist mehr als eine Laune aus dem Freitag 25/2015). Zuletzt machten sich 1995 Wissenschaftler dafür stark, das belastete Wort race ein für alle Mal durch einen anderen Begriff zu ersetzen – der indes noch gefunden werden muss.
Vom passing (vom „Durchgehen-als-ob“) sprechen traditionell die US-Sozialwissenschaften, wenn ein Mensch seine Race-Identität ändert, etwa indem er vom schwarzen Bürger zum weißen wird. Ebendies war für viele Afroamerikaner in den USA jahrhundertelang eine Überlebenstechnik, ein Kraftakt der Selbstverleugnung und Anpassung. Je heller die Haut, desto eher war der Identitätswechsel möglich. Das Kappen sozialer und familiärer Bande gehörte zum passing dazu.
Dolezal erklärt ihre Variante des passing kurzgefasst damit, dass sie sich „sozial schwarz“ fühle, und verweist unter anderem auf ihre Erfahrungen von Leid. Sie wurde in ein Elternhaus mit deutsch-polnischen Wurzeln geboren, in dem ein, gelinde gesagt, radikaler Erziehungsstil gepflegt wurde. Die Kinder wurden via Heimunterricht aus öffentlichen Schulen ferngehalten und, so berichtet es auch einer von Dolezals Brüdern, körperlich misshandelt.
Genau hier dockt die #wrongskin-Welle – die wesentlich von Weißen getragen ist – an: an Leiderfahrungen. Einer der Ersten, die das Schlagwort in Umlauf brachten, ist der US-Student Godfrey Elfwick, der sich als „gender-queerer muslimischer Atheist, weiß geboren in der falschen Haut“ beschreibt, der „das Leben durch die Linse von Minderheitenfragen betrachtet“.
Das ist das erfrischende Moment an #wrongskin – von dem viele inzwischen wiederum vermuten, dass es sich um Satire handelt, die sich vor allem über queeren Aktivismus lustig macht: Es treibt die Dekonstruktion der „Rassen“-Vorstellung weiter, indem es race eindeutig als soziale Kategorie behandelt, nicht als etwas, was „im Blut“ eines Menschen schwimmt, sondern als Indikator für Ungleichbehandlung. Viele weiße #wrongskin-Twitterer spüren augenscheinlich eine Solidarität, weil sie selbst viele Arten von Diskriminierung erfahren haben. Aber eine eben nicht: den Rassismus.
Genau das ist das Problem bei Rachel Dolezals verquerem Aktivistinnentum und der #wrongskin-Welle: Der lebensgefährliche Faktor Hautfarbe wird ausgeblendet beziehungsweise für ein merkwürdiges Rollenspiel missbraucht. Beides sind sicher „gut gemeinte“ Versuche von Weißen, einen symbolisch-politischen Schulterschluss herzustellen, sich auf die Seite der anderen zu schlagen, mit ihnen zu gehen – und: für sie zu sprechen.
Beides rührt indes nicht nur an die Frage einer letztlich doch wieder kolonisierenden Aneignung fremder Zeichen, sondern auch an die Frage nach der Repräsentanz: Inwieweit können, dürfen, sollen sich Angehörige einer privilegierten Gruppe einmischen in den Kampf, den Unterprivilegierte gegen die Privilegienstruktur führen? Auch die aggressive Umarmung des potenziell Schwächeren durch den Stärkeren ist eine Form von Paternalismus.
Überall schwarze Phantome
„Zu den Merkmalen der Rasse und des Rassismus gehört auch das Bestreben, stets einen Doppelgänger, einen Ersatz, ein Äquivalent, eine Maske, ein simulacrum hervorzuholen oder zu erzeugen“, schreibt der kamerunische Politikwissenschaftler Achille Mbembe in seinem programmatischen Buch Kritik der schwarzen Vernunft (Suhrkamp, 2014). „Sobald sich ein authentisches menschliches Gesicht zeigt, bemüht sich der Rassismus, es in den Hintergrund zu drängen oder mit einem Schleier zu verhüllen. Anstelle des Gesichts lässt man aus den Tiefen der Phantasie ein Phantomgesicht aufsteigen, das simulacrum eines Gesichts, eine Silhouette.“
Bräunungscreme und Dauerwelle: Mit gut einem Jahr Vorsprung hat Mbembe beschrieben, was Dolezals Verkleidung und letztlich auch die #wrongskin-Idee kennzeichnet – die Verengung des Bildes des „schwarzen Menschen“ auf ein simulacrum. Auf das simulacrum Afrofrisurenträgerin. Oder eben auf den nicht für sich sprechen könnenden ewigen Underdog, das Überopfer im Kapuzenpulli.
So wie es aber viele people of color gibt, die sich klar, originell und scharf zum Rassismus äußern – neben Theoretikern wie Mbembe etwa die populären Autoren Teju Cole (USA) und Zadie Smith (Großbritannien) oder hierzulande die Künstlerin und Aktivistin Noah Sow –, so ist die Geschichte der US-Bürgerrechtsbewegung durchzogen von ganz unterschiedlichen Varianten und politischen Strategien der Blackness. So setzte Martin Luther King auf die Integration in das kapitalistische Mittelschichtsversprechen, er trat stets im bürgerlichen Anzug auf und hing einem überaus konservativen Geschlechtermodell an. Ein ganz anderes Bild des „schwarzen Amerikaners“ jener Tage, ein Bild, das ein Weißer zeichnete, wirkt aber eigentlich stärker nach, es mündet bis heute in den Satz: „Schwarze können halt besser tanzen.“ Der Schriftsteller Norman Mailer recherchierte in den fein verästelten Subkulturen New Yorks und schwelgte 1957 in seiner eigenen Blackness-Fantasie: The White Negro heißt sein berüchtigter Aufsatz, in dem er von der Figur des „schwarzen Hipster“ schwärmte und ein Bild des immer ekstatischen, lustvollen, sozusagen rhythmusbetonten Schwarzen zeichnete.
Kritisches Weißsein ist schwer
Nein, bestimmte Formulierungen, bestimmte Zeichenspiele „gehen“ eben nicht mehr. Wir wissen mehr als früher, wir haben reichhaltige Möglichkeiten, den jeweils anderen zuzuhören. Wer als weißer Mensch den Rassismus bekämpfen will, hat anzuerkennen, wodurch people of color sich verletzt oder beleidigt sehen. Und er muss bereit sein, sein eigenes Weißsein als wesentliches Teil des Problems zu sehen.
Genau dies können Weiße jetzt aus dem „Fall Dolezal“ lernen. Critical Whiteness, kritische Weißseinsforschung, heißt eine Denkschule, die in den USA in den 1990er Jahren entstand und auch hierzulande nun erstarkt. Ihre Kernthese: Das Weiße ist das andere – nicht die Gesamtheit des anders Getönten. „Es geht (dabei) nicht darum, als Weißer jetzt endlich alles richtig zu machen, indem man neue Regeln lernt“, erklärte die amerikanische Philosophin Millay Hyatt, weiß, im Deutschlandfunk. Sondern es gehe „um die Analyse dessen, was wir meinen und was wir tun, wenn wir sprechen und denken. Um das Gewahrwerden dessen, was wir bisher gar nicht als Struktur unseres Denkens wahrgenommen haben.“ Wer sein Weißsein kritisch hinterfrage, werde zunächst eher „ein Stottern als ein souveränes Reden“ hervorbringen.
Aber das ist wohl genau das, was Solidarität mit people of color dieser Tage ermöglicht: ein respektvolles Stottern. Und ansonsten: zuhören, zuhören, zuhören.
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