Der Globus poppt

Medienkunst und Musik Das CTM-Festival in Berlin präsentiert „Neue Geografien“ und entdeckt politische Motive wie nie zuvor. Aber nicht bei uns, sondern anderswo
Ausgabe 04/2016

Das Sprechen und Schreiben über Popmusik, der Popdiskurs, ist zu einem großen Gegreine verkommen. Zur vergangenheitsduseligen Heulerei älterer Herren aus dem reichen Teil der Welt. So ließe sich ketzerisch zuspitzen, was gleich ein ganzer Chor etablierter Popkritiker zuletzt in Buchform veröffentlicht hat: Mark Fisher (Gespenster meines Lebens, 2015), Simon Reynolds (Retromania, 2011), Jonathan Lethem (Talking Heads. Fear of Music, 2012) und Jon Savage (1966. The Year the Decade exploded, 2016 ) sind alle weiß und über 50. Und sie alle kommen im Kern zum selben Schluss: Es fehle dem Pop heute, zu Soundcloud-Zeiten, der revolutionäre Geist. Früher, als man noch Vinyl kaufte, als es das David-Bowie-Berlin und Margaret Thatcher noch gab, war nicht nur die Musik besser, sondern auch die Konsumenten – alle und alles angeblich viel „politischer“!

Das klingt erst mal hübsch kritisch. Man kann die Texte dieser Männer aber auch als Beispiele für eine „atemberaubend paternalistische Chuzpe“ lesen. So bezeichnet die Musikethnologin Kerstin Klenke jedenfalls das, was Ex-Punk Sting zu seinen Auftritten in zweifelhaft regierten Staaten wie Usbekistan sagt: Sting sei der Ansicht, dass er „eine kulturelle Entwicklungshilfe für eine isolierte und leidende Bevölkerung“ leiste, schreibt Klenke in dem Band Seismographic Sounds. Visions of a New World, einem überwiegend englischsprachigen und überaus erhellenden Kompendium über Gegenwartsmusik aus aller Welt.

Kuduro heißt harter Arsch

Sting meint es also gut – sagt er. Aber: Könnte es nicht sein, dass Usbekistan längst seine eigene Pop-, Rock- und Punkszene hat? Und wäre es nicht interessant zu erfahren, unter welchen Repressalien Musiker dort leiden und wie sie mit Sounds und Texten darauf reagieren? Wie ergeht es der Heavy-Metal-Szene in Indonesien, wie steht es um Techno-Bastler in Peru, Indie-Bands in Ägypten, DJs in Ghana?

Das erzählen die Seismographic Sounds auf anschauliche Weise. Herausgegeben wird der Reader vom Netzwerk Norient, das seine Basis im schweizerischen Bern hat. 250 Musiker, Produzenten, Theoretiker und Journalisten aus 50 Ländern, die meisten jenseits des Mainstream-Geschäfts tätig, haben Interviews oder Kurzessays beigetragen. Beim CTM-Festival für „Adventurous Music and Art“ in Berlin ist jetzt auch eine Ausstellung zu dem Projekt zu sehen, mit vielen Fotos, Hörproben und Videos.

Enstanden ist ein vielschichtiges Panorama, das sehr klar zeigt: Entgegen allen Unkenrufen ist das, was sich unter dem Schlagwort Pop tut, so politisch wie vielleicht nie zuvor. Und zwar besonders da, wo extreme Korruption den Alltag bestimmt, wo Entführungen und Ermordungen üblich sind oder sogar Kriege toben. Nur hat die kulturelle Hegemonie des Westens, die angelsächsisch und eurozentristisch geprägte Sichtweise auf Popmusik bislang den Blick darauf verstellt.

Risking your life for Youtube ist etwa der Buchabschnitt überschrieben, in dem der pakistanische Polit-Rapper Ali Gul Pir über Morddrohungen berichtet. Die Regierung hat inzwischen eine Youtube-Sperre verhängt, subkulturelle Musik wird als „Waffe des Westens“ begriffen, man habe ihm „zionistische Propaganda“ vorgeworfen, sagt Pir. Mittlerweile hat er Pakistan verlassen, einerseits um sein Leben zu retten, aber auch, um von außerhalb kritische Inhalte ins Land zu schmuggeln. „Es ist enttäuschend, dass ich meinem Land nur dadurch helfen kann, dass ich verschwinde.“

Anders als Reynolds, Fisher und Kollegen behaupten – „Im Pop passiert nichts Neues mehr!“ –, sind in den vergangenen zehn bis 20 Jahren weltweit sehr wohl etliche neue Musikstile entstanden: etwa der brasilianische Baile Funk, auch Favela Funk genannt, der langsam, aber sicher Lateinamerika erobert. Oder der Kuduro aus Angola, ein Sound, der an die Dancehall-Tradition anknüpft und dessen Name harter Arsch bedeutet. Oder der Mahragan, eine moderne Form ägyptischer Tanzmusik, die in den Revolutionsjahren 2006/2007 auf den Straßen Kairos populär wurde.

New Geographies, „Neue Geografien“ lautet das diesjährige Motto des CTM-Festivals, das seit 1999 als Begleitveranstaltung zur Transmediale für Medienkunst und digitale Kultur läuft. Die dortige Ausstellung des Norient-Netzwerks ist, wie das dazugehörige Buch, in sechs Themen gegliedert, die den Spielraum und die Inhalte der Pop-, und Rockmusik heute weltweit prägen: Geld / Einsamkeit / Krieg / Exotika / Verlangen / Zugehörigkeit.

Zum Thema Einsamkeit bemerkt etwa Endenuena Mulu, Elektro-Musiker aus Äthiopien: Die alte ethnozentristische Genrebezeichnung Weltmusik habe Musiker aus nicht westlichen oder nicht weißen Erdteilen jahrzehntelang marginalisiert, habe sie zu Anderen gemacht und ihre Klänge als obskure „Besonderheiten“ abgetan. Mit dem Internet, aber vor allem auch mit den großen Migrationsbewegungen wird sich das ändern: „Die zukünftigen Mainstream-Hits werden auch aus Afrika, Asien und Lateinamerika kommen“, heißt es im Vorwort der Seismographic Sounds.

Info

Seismographic Sounds. Visions of a New World Theresa Beyer, Th. Burkhalter, H. Liechti (Hg.) Norient Books 2015, 504 S., 35,99 €

CTM-Festival 29.1. bis 7.2. ctm-festival.de

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Geschrieben von

Katja Kullmann

Stellvertretende Chefredakteurin

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