Der rote Faden der Geschichte

5 Jahre nach Occupy Im September 2011 fand die erste Occupy-Demo in New York statt. Viele hofften auf eine Globalisierung von unten. Heute wissen wir: Leider wurde erst mal nichts daraus
Ausgabe 37/2016
Der Drang zur Veränderung
Der Drang zur Veränderung

Foto: Mario Tama/Getty Images

Der Himmel über Lower Manhattan leuchtete Werbespot-blau, die Spiegelglastürme glitzerten stolz in der Sonne, als unten, zu ihren Füßen, die Revolution losbrach. Besser: als die Revolution losbrechen sollte.

Es war der 17. September 2011, ich war auf der Durchreise und wollte mir die Wall Street ansehen, den Ort, an dem drei Jahre zuvor der Lehman-Crash geschehen war, weshalb nun Millionen Menschen weltweit unter Spardiktaten ächzten. Doch es war kein Durchkommen, überall Polizei. Ich fragte einen drallen schwarzen Officer, was los sei. Er grinste: „Sieht so aus, als ob wir hier eine Demonstration haben.“ Wer da demonstriere, wollte ich wissen, „wogegen oder wofür?“. Das Grinsen des Polizisten verbreiterte sich: „Soweit ich weiß, geht es irgendwie um den Kapitalismus.“ Da mussten wir beide lachen. „Na, wenigstens haben die sich den passenden Ort ausgesucht“, sagte ich.

An der nächsten Ecke sah ich sie: vielleicht 300 oder 500 jung und ungefährlich wirkende Menschen, mit Transparenten, deren Aufschriften mir nichts sagten. Ich hielt sie für ein Häufchen harmloser Gentrifizierungsgegner, ach ja, und vergaß sie beim nächsten Coffee to go. Aber abends, in den Nachrichten, tauchten sie wieder auf. Während sie Zelte im Zuccotti Park aufschlugen, hatten weitere 1.000 Menschen die Brooklyn Bridge besetzt. „Occupy Wall Street“ nannte sich die Bewegung. Den TV-Reportern stellten sie sich als die „99 Prozent“ des Landes vor, als Lehrerinnen und Nachtwächter, Busfahrerinnen und Doktoranden – als Vertreter der durchprekarisierten Mehrheitsbevölkerung, die nicht länger bereit war, die (Finanz-)Herrschaft des „einen Prozents“ zu dulden.

Es war ein Chor aus vielen Stimmen, keinem bekannten Politlager zuzuordnen – und er schien ansteckend zu sein. Schnell folgten Occupy-(später: Bloccupy-)Camps in Europa, zum Beispiel in London, Hamburg und vor der EZB-Zentrale in Frankfurt am Main. Auch in Wien und Tel Aviv gingen Menschen auf die Straßen, und aus China, wo der Wohlstand für die Massen angeblich explodierte, wurden weiterhin Selbstmorde und Proteste von Foxconn-Mitarbeitern gemeldet. In Spanien hatten sich Zehntausende von Indignados („Empörten“) zur „Bewegung 15. Mai“ zusammengeschlossen, und in Griechenland war ohnehin die Austeritätshölle los. Derweil bezogen sich die New Yorker Aktivisten explizit auf den Arabischen Frühling, auf die Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo.

Die Parallelität des Aufmuckens war verblüffend, die Parolen und Forderungen schienen miteinander verwandt zu sein – und das lag an der strukturellen Ähnlichkeit der Protestierenden: Es waren die Mittelschichten, die sich weltweit gegen das Zerbröseln ihrer Existenzgrundlagen wehrten. Von unterschiedlichen Wohlstandsniveaus aus kamen sie ins Trudeln, sie alle erlebten die Missachtung oder Entwertung ihrer Lebensbemühungen. Und es schien, als wollten sie sich nicht länger gegeneinander ausspielen lassen, als Konsumenten und Produzenten, in ewiger Konkurrenz um Standortvorteile und nationale Im- und Exportraten.

Wie so viele andere hielt auch ich den Herbst 2011 für den Herbst der Hoffnung. In drei Zeitungen schrieb ich den Satz: „Es ist höchste Zeit für eine Globalisierung von unten!“ Und wie viele andere kann auch ich kaum fassen, was nun, fünf Jahre später, los ist. Auf Occupy folgte Pegida, auf die Solidarität der Hass, auf Obama folgt womöglich Trump. Der Faden, wo ist der verfluchte rote Faden in der Geschichte?

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Geschrieben von

Katja Kullmann

Stellvertretende Chefredakteurin

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