Dieser Mann hatte einen Traum. Nein, er hatte zwei. Einen großen, der noch unerfüllt ist. Und einen kleinen, der kürzlich Realität wurde.Der große Traum begleitet ihn schon ein halbes Jahrhundert lang. „I have a dream“: So begann Martin Luther King seine berühmte Rede beim March of Freedom, im August 1963 in Washington. Es ging darum, dass alle Menschen gleich erschaffen sind und eines Tages auch so behandelt werden. Donald Vaughn hörte genau zu, er dachte ja dasselbe. 26 Jahre alt war er damals und gerade dabei, eine Familie zu gründen.
Der kleine Traum schlug erst neulich zu, jetzt, da Vaughn kurz vor seinem 80. Geburtstag steht. Es war „nicht direkt ein Albtraum, es war alles ziemlich realistisch“, sagt er. „Schon Tage zuvor hatte ich hier in Frankfurt meine Briefwahlunterlagen eingeworfen.“ Nachts schlief er schlecht und mailte am nächsten Morgen an zwei Freunde in den USA: „Stellt euch vor, ich habe geträumt, dass Donald Trump gewinnt.“ Den Wahlabend verbrachte er dann mit seiner Frau Maria vor dem Fernseher, in ihrer Altbauwohnung im Frankfurter Nordend, in der sie schon seit über 40 Jahren leben. „Wir waren sicher, dass Hillary gewinnen wird, und wollten nicht die ganze Nacht wach bleiben.“ Gegen sieben in der Früh stand er wieder auf, ging ins Bad, leise, um Maria nicht zu wecken. Als er zurückkam, hatte sie schon den Fernseher angeschaltet. „Sie sagte nur ein Wort: Trump.“ Er trat einen Schritt näher an den Apparat. Und Maria sagte wieder nur: „Trump!“ Mit griechischer Mythologie kenne er sich nicht gut aus, „aber seither habe ich immer das Bild einer Medusa vor Augen: eines Monsters mit zig Köpfen, und immer wenn man einen abschlägt, wachsen fünf neue nach.“
Aufwachsen in Detroit
Donald Vaughn ist ein zierlicher schwarzer Mann, der fließend Deutsch spricht, langsam und leise und mit einem charmanten amerikanischen Akzent, auch nach all den Jahren in Germany noch. Ein Ex-G.-I., Ex-Bohemien, Ex-Sänger, Ex-Bauzeichner, Ex-Soziologe, Ex-Mitarbeiter der ersten offiziellen „Multikulti-Behörde“ Deutschlands, zweifacher Vater und mittlerweile auch ein Buchautor. Ein „Jack of all trades“, wie er nicht ohne Stolz auf sein abwechslungsreiches Leben sagt, um sofort schüchtern nachzufragen: „Wie heißt das auf Deutsch?“ – „Hansdampf in allen Gassen heißt es wohl.“ Er nickt und strahlt.
Ja, man könnte sagen, dass dieser Mann bis hierhin schon ein wahres Jahrhundertleben gelebt hat. Eines, in dem die Leichtathletiklegende Jesse Owens und Stevie Wonder eine Rolle spielen, so wie die Nazi-Diva Marika Rökk und der Ur-Grüne Daniel Cohn-Bendit. Farben eines Lebens heißt das Buch, in dem Vaughn all diese Begegnungen aufgeschrieben hat und das nun auch auf Deutsch erschienen ist. Es endet in den späten nuller Jahren. Ein hoffnungsvolles Buch soll es sein. Eines, das vom Rassismus dies- und jenseits des Atlantiks erzählt. Aber auch davon, wie dieser Rassismus über all die Jahre, in vielen kleinen Schritten, bekämpft wurde, bis es so schien, als ob er eines Tages zu besiegen wäre.
Von Stevie Wonder zur Startbahn West
Farben eines Lebens heißt das Buch, in dem Donald Vaughn seine spannende Lebensgeschichte auf zwei Kontinenten erzählt (Nordend, 298 Seiten, 13,80 Euro).
1937 in der damaligen Industriemetropole Detroit, Michigan, geboren, träumt er als Teenager davon, ein Sänger zu werden, wie so viele Jugendliche aus seiner Nachbarschaft, einem Viertel, in dem auch Stevie Wonder und die Four Tops groß wurden. Mit Anfang 20 verschlägt es ihn zur Armee, mit der er 1958 als G. I. nach Deutschland kommt, in eine Kaserne in Frankfurt am Main. Manche Deutsche reagieren skeptisch auf seine Hautfarbe – doch viele Jüngere aus der rebellischen Nachkriegsgeneration freuen sich über die Anwesenheit der Amerikaner und die aufregende Kultur, die sie mitbringen. Vaughn verliebt sich in eine Einheimische, Maria. Die „Mischverbindung“ zwischen einem Schwarzen und einer Weißen bringt anfangs viele Probleme mit sich, Alltagsrassismus, Anfeindungen. Doch Vaughn hat sich entschieden: Er verlässt die Armee, gründet mit Maria eine Familie und findet im Bauboom der Wirtschaftswunderjahre Arbeit als Technischer Zeicher. Später studiert er zusätzlich noch Soziologie. Das Paar reist viel, lebt ein moderates Bohemeleben und nimmt an den Protesten gegen die Startbahn West teil. Schließlich landet Vaughn 1989 als Mitarbeiter im Frankfurter Amt für multikulturelle Angelegenheiten, der ersten deutschen Behörde dieser Art.
Auch heute, mit fast 80, ist Vaughns Neugier auf Politik und Kultur ungebrochen. Einer seiner Lieblingsregisseure ist Fatih Akin – „weil der in seinen Filmen immer ehrlich ist, so kommt es mir jedenfalls vor“. Katja Kullmann
„Ich weiß nicht, was jetzt wird. Der Schock ist noch groß“, sagt der 79-Jährige, als ich ihn zum Gespräch in seinem Wohnzimmer treffe. Dass das Internet vor Hass überquillt, Flüchtlingsheime brennen und nun ein Mann die USA regieren wird, der Zuspruch vom Ku-Klux-Klan erhält: „Das ist, als hätte jemand all die alten Flaschengeister wieder rausgelassen.“ Auf die USA gemünzt setzt er hinzu: „Es ist eine Gesellschaft, die auf Sklaverei basiert. Daran hat sich in den Köpfen nichts geändert.“
Donald Vaughn wurde 1937 in Detroit, Michigan, geboren, der Stadt, die heute mit ihren Industrieruinen und hohen Arbeitslosenzahlen als ein Sinnbild für den Niedergang der US-Arbeiterklasse gilt. Hier leben vor allem verarmte schwarze Familien, aber auch abgehängte Weiße, die man heute white trash nennt, ein Milieu, dem der weiße Detroiter Rapper Eminem 2008 den Film 8 Mile widmete. Vaughns Vorfahren waren aus Tennessee und Mississippi in den Norden gezogen, wo Autoriesen wie Ford Jobs versprachen. Der Name Vaughn ist schottisch, er geht auf den Plantagenbesitzer zurück, für den die Ahnen des Vaters einst arbeiteten. Während die Mutter sich als Krankenschwester hocharbeitet und zur ersten schwarzen Pflegerin auf der Intensivstation ihres Krankenhauses wird, versucht der Vater es „in der Schattenwirtschaft, mit Lotterien und Glücksspiel“.
Als Donald noch ein Teenager ist, machen vier singende schwarze Jungs aus der Nachbarschaft von sich reden: die The Four Aims, die später als Four Tops weltberühmt werden. Auch ein blinder, musikalisch hochbegabter Junge namens Stevie Wonder ist im Viertel bekannt, und das erste Mädchen, in das Donald sich verknallt, ist die Tochter des in der Nähe wohnenden Olympia-Stars Jesse Owens. Einer der frühen politischen Prediger in der Gegend, später ein Wortführer des Civil Rights Movement, ist Reverend Clarence Franklin, der Vater der Soul-Königin Aretha Franklin. Auch der kleine Donald nimmt Gesangsunterricht. Die Mutter schickt Aufnahmen an einen Produzenten. „Der antwortete: ,Er hat eine schöne Stimme, aber die anderen schreien lauter‘“, erzählt Vaughn.
Avantgarde in Frankfurt
Mit 20 tritt er in die Armee ein, wo schwarze und weiße Soldaten in getrennten Kompanien untergebracht sind. 1958 kommt er als G. I. nach Deutschland. In und um Frankfurt versorgen PX-Supermärkte die Armeeangehörigen mit Heimatware, AFN sendet US-Musik, und es entstehen reihenweise Clubs und Bars für die G. I.s. Einer trägt den Namen Plantation Club, spielt also auf die Sklaverei an. Vaughn und seine engsten zwei, drei Kameraden, auch sie schwarz, besuchen auch wegen des Rassismus in der Armee öfter Lokale, in denen sich Einheimische vergnügen. „Die Deutschen sagten ,Neger‘ zu uns, das klang wie ,Nigger‘ in meinen Ohren. Oft wurde ich auch geduzt. Wir nannten die Deutschen im Gegenzug alle ,Konrad‘.“ Aber es gibt auch viele Jüngere, die die Anwesenheit der Amerikaner begrüßen, den frischen Wind, die aufregende Kultur, die diese mitbringen. „Für manche Leute hier war ich wohl ein Zwischending aus Exot und Fremdem, etwas wie ein Tier, das von seinem Weideland geirrt ist und den Weg zurück nicht mehr gefunden hat.“
Manche der welthungrigen Kinder der Nazigeneration treffen sich Ende der 50er Jahre im Jazzhaus in der Frankfurter Innenstadt. Eine kleine Boheme entsteht dort, man unterhält sich über Philosophie und Literatur. Auch eine junge Frau namens Maria ist oft dort. Sie trägt schwarze Pullover und enge Jeans, wie die französische Chanteuse Juliette Gréco. Als sie Donald Vaughn im Jazzhaus begegnet, verliebt sie sich sofort in seine Augen. Er wiederum verliebt sich sofort in ihren Geist: „Da war ein Mensch, der sich für all die Fragen interessierte, die auch mich beschäftigten. Sie sprach Englisch und war sehr hübsch, nicht so ein biederer ,Fräulein-Typ‘, sondern more on the avantgarde side“, sagt Vaughn.
Die beiden werden ein Paar. Er verlässt die Armee, um in Deutschland zu bleiben, bei der Frau, die er liebt. Es ist schwierig, eine Wohnung zu finden. Frauen wie Maria werden als „Ami-Huren“ bezeichnet, hinter vorgehaltenen Händen. Nicht nur, dass sie noch nicht verheiratet sind, nein, sie sind eben auch schwarz und weiß, und Maria ist noch dazu sechs Jahre älter als er und anfangs diejenige, die das Geld verdient, mit Bürojobs. 1960 heiraten sie standesamtlich und finden eine Einzimmerwohnung. 1961 kommt der Sohn auf die Welt, sie nennen ihn Namé, 1963 die Tochter Dominique.
Das Paar hält sich an die Freunde, die sie aus dem Jazzhaus kennen, sie besuchen öfters den Club Voltaire, der 1962 als Debattierkneipe von linken Studenten gegründet wurde. Donald versucht Arbeit zu finden und nimmt das Singen wieder auf, hat Auftritte in klassischen Aufführungen und tourt für einen Monat in einer Revue mit Marika Rökk, tatsächlich: mit einer der Sexbomben der Nazis. Auf jener Tour performt er den Song Sonny Boy, ein Lied, das einst von dem Weißen Al Jolson gesungen wurde, der sein Gesicht für die Auftritte schwarz färbte – blackfacing nennt man das. „Ja“, sagt Vaughn, lacht und schüttelt den Kopf, „so wollte man einen Schwarzen sehen. Ich zog es eben durch und nahm das Geld.“ Schließlich profitiert er „vom Wirtschaftswunder und vom Bauboom“, wie er sagt, und findet eine Anstellung als Technischer Zeichner, erst in einem Ingenieurbüro, dann im städtischen Planungsamt. Unter dem Namen Al Curtis nimmt er nebenbei eine poppige Single auf (Cherry Berry Wine), schließlich trägt er Folk- und Protestsongs beim Festival auf Burg Waldeck im Hunsrück vor, wo Liedermacher wie Franz Josef Degenhardt auftreten.
„Alle unsere Freunde waren eigentlich immer marginal“, sagt Vaughn heute. Und tatsächlich: Seine Erinnerungen lesen sich auch wie ein Gesellschaftspanorama der Bundesrepublik – betrachtet aus der Perspektive eines echten 68ers. Das geht von der verdrucksten Wirtschaftswunderära über die radikal politisierten 60er und 70er Jahre bis zu den 80ern und 90ern, als mit den Grünen nicht nur eine neue Partei entstanden war, sondern auch ein neuer Begriff: Multikulti, ein Behelfswort für das Ideal einer pluralistischen Gesellschaft. Die „marginalen Freunde“ waren es auch, die ihn ermutigten, neben dem Job Soziologie zu studieren. Als Soziologe landete er dann 1989, über einen Kontakt zu Daniel Cohn-Bendit, als Mitarbeiter im Frankfurter Amt für multikulturelle Angelegenheiten, der bundesweit ersten Behörde, die sich um die Integration und Gleichberechtigung aller Bewohner bemüht, gleich, woher sie kommen.
„Ich liebe Frankfurt“, sagt Donald Vaughn. Weil es bis heute eine der weltoffensten Städte sei, die er kenne, „mit Menschen aus 170 Ländern“. Das wachsende Selbstbewusstsein von Afrodeutschen, Menschen, die als Deutsche mit dunkler Haut geboren sind, gefällt Vaughn. Seine Tochter hat den bürgerlichen Weg gewählt: Sie arbeitet heute als Vorstandsassistentin und singt mit ihrem Ehemann in einem Gospelchor. Der Sohn Namé folgte eher der Boheme-Spur der Eltern. Er war als Digitalkünstler und -musiker gefragt, trat unter dem Namen Viet-Namé auf und gründete 1992 das Musiklabel Infracom. 2004 starb er an einem Gehirntumor. „Immer wenn Namé das Gefühl hatte, dass Leute ihm wegen seiner Hautfarbe unsicher oder unfreundlich begegneten, streckte er offensiv seine Hand aus und stellte sich vor: ,Hallo, ich bin Namé und komme aus Frankfurt, genau wie meine Eltern. Und Sie?‘“
Dass alles umsonst war, der ganze Kampf, im Großen wie im Kleinen: Das will, das kann Donald Vaughn nicht so sehen. „Die wütenden Weißen wollen nicht wahrhaben, dass sie im selben Boot sind, in dem viele Schwarze schon längst sitzen. Auch unter Schwarzen gibt es ja große Unterschiede: Jemand wie Barack Obama hat keine Ahnung, wie es sich in einem Ghettoviertel lebt. Wir müssen jetzt die Gemeinsamkeit der Abgehängten betonen, nicht die Konkurrenz unter ihnen schüren.“
Am Ende seines Buchs schreibt er über die steigenden Mieten in seiner Frankfurter Nachbarschaft, einem früheren Arbeiterviertel. „Die Gegend ist inzwischen wieder auffallend weiß geworden, was die Anwohnerschaft angeht“, sagt er. „Ich bin besorgt über diese Entwicklung, weil dadurch soziale Werte verschwinden, die eine Gesellschaft ohne Diskriminierung zusammenhielten.“
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