Es blüht der OBI-Pop

Ästhetik Mit vielen Fotos und einem genial garstigen Text bringt Karl Bruckmaier die Pop-Theorie aufs Land
Ausgabe 38/2016

Der Discounter Lidl hat aktuell ein ganz besonderes Leckerchen für Gartenfreunde in seinem Baumarktsortiment: eine künstliche Ruine „mit Fenster inklusive Sitzbank“, 2,63 Meter breit, 2,95 Meter hoch, aus Beton, in den Farben Grau/Anthrazit oder Muschelkalk erhältlich, mit statisch geprüfter Bauanleitung. „Der perfekte Sitzplatz mit antikem Flair“ kostet 1.189 Euro. Bei Hornbach könnte man sich dazu noch die Zwillingsstatue „Tempelwächter mit Löwenjunge“ aus Kunststein besorgen, Gewicht 48 Kilo, Preis 129,99 Euro. Oder man bescheidet sich mit einem Buddhakopf oder einem Set Deko-Erdmännchen aus einer Bauhaus-Filiale.

„Die wilde Schönheit der Baumarkt-alimentierten Volkskunst, des OBI-Pop, sie sucht noch nach ihren Kennern, nach ihren Connaisseuren oder gar Sammlern (...) Die Grenzen dieser art brut sind noch unerschlossen“, schreibt der Popkritiker Karl Bruckmaier in dem wunderbar garstigen, zugleich aber versöhnlichen und erhellenden Band OBI oder das Streben nach Glück – Eine Baumaterialsammlung, der soeben in der Reihe „kursbuch.edition“ erschienen ist. Das Kursbuch – 1965 als kulturkritische APO-Zeitschrift von Hans Magnus Enzensberger gegründet und nach einer wechselvollen Geschichte seit 2012 vom Murmann-Verlag aus Hamburg herausgegeben – will mit der neuen Taschenbuchreihe seinen Stammautoren „mehr Platz für treffende Argumente, entwickelte Pointen und mehr Zeit für gelungene Verbindungen“ bieten.

Ebendies, Pointen und „gelungene Verbindungen“, gelingt Bruckmaier auf seinen 200 Seiten zum OBI-Pop auf Schönste, auf geradezu mustergültige Weise. Gemeinsam mit dem Fotografen Wilfried Petzi, der als Musiker bei der Theorie-Pop-Band FSK spielt, ist er wochenlang durch Niederbayern gefahren, die Gegend, in der er einst aufwuchs, bevor er als „Expat“ in die Großstadt München zog. Gemeinsam haben die Männer Bushaltestellen und Blumenbeete studiert, Hofeinfahrten und Vorgärten.„Windspiele klingen, rostiges Blech wird zu Vögeln und Fröschen umgeschmiedet, Glaskugeln blitzen zwischen ausufernden Bambusflächen, altes Ackergerät wird in kruden Zusammenhang gesetzt mit Blumenschmuck und FC-Bayern-Fahnen.“

Statt sich über solche Kombinationen lustig zu machen, statt die grelle Überschmückung oder gar den „schlechten Geschmack“ der Dörfler zu zerreißen, verteidigt Bruckmaier sie – und zwar mit Verve. Er deutet den ländlichen „Deko-Tornado“ als „passiv-aggressiven Widerstand“ – als Aufbegehren gegen die ästhetischen Ideologien der „gehobenen Stände der urbanen Bevölkerung“. Der Städter, das ist in Niederbayern der „Zugeroaste“. Wobei Niederbayern Bruckmaier nur als „Metapher für jegliche deutsche Provinz“ dient. Es geht ihm um den Blick der „Bildungs- und Finanzelite“, die sich Wochenendhäuser im Grünen leistet und dort ihre Vorstellungen von Urigkeit gefälligst verwirklicht sehen will, in einem „Themenpark der Nostalgie“, wo knallechte Geranien blühen und gekämmte Kühe anmutig auf Wiesen stehen.

Doch spätestens mit dem Internet habe „der Feldversuch Pop auch auf diese Regionen übergegriffen. Wer über Land fährt, kann nachgerade eintauchen in eine Explosion der Selbstverwirklichung“. Jene Selbstverwirklichung ähnle den „Assemblagen und Bricolagen, die seit Jahren unsere Kunstbiennalen verstopfen“. Der moderne Baumarkt sei ein „Massenspeicher der Möglichkeiten“, ein Ort, „der genau jenes Ideenkapital vorrätig hält, auf das der Vereinzelte so lange gewartet hat. Nicht anders als Popmusik einst die einfachen Akkorde, die schnellen Ideen, die billigen Gefühle wie im Rausch zu verteilen in der Lage war“.

Hier nutzt ein Autor das Instrumentarium der guten alten Pop-Theorie in höchst origineller – und politischer! – Weise. Man kann dieses Buch nicht beschreiben, man muss es ansehen und lesen.

Info

OBI oder das Streben nach Glück – Eine Baumaterialsammlung Karl Bruckmaier, Wilfried Petzi kursbuch.edition 2016, 200 S., 30 €

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Geschrieben von

Katja Kullmann

Stellvertretende Chefredakteurin

Katja Kullmann

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