Da sitzt sie nun. Angela Merkel. Die Königin von Deutschland. Unsere Geschäftsführerin. Nach acht Jahren doch noch mit einem Einserzeugnis. Will weiter fleißig sein, will Deutschland dienen, wie sie sagt. Hält das Land fest in ihren mittlerweile weltberühmten Händen. Und kann nur leider im Moment nicht sehr viel damit anfangen.
Nach der Wahl ist vor der Wahl. Nur schlimmer. Erst Ideenstau, jetzt Verhandlungsstau. Was auch daran liegt, dass die SPD erst ihre Mitglieder abstimmen lassen will, ob die mit einer Großen Koalition überhaupt einverstanden wären. Vereinzelte Grüne rufen: Nimm doch uns! Allerdings gibt es die Grünen im Moment eigentlich gar nicht, höchstens als kopfloses Kollektiv. Auf manche Bürger, Wähler wie Nichtwähler, wirkt das alles wie ein weiterer Beleg für das Versagen der da oben. Die Zweifel am Berliner Apparat, mehr noch, an der repräsentativen Demokratie, werden seit dem Wahlabend noch einmal lauter.
Von Weimar wird geraunt. Und von einem neuen Biedermeier. Beide Begriffe sind typisch deutsch, sie gehören zum Identitätsinventar dieses Landes. Beide stehen für Zaudern und Zögern, für das Versagen der demokratischen Kräfte und das Erstarken eines giftigen Nationalismus. Weimar und Biedermeier sind, zu Recht, Angstformeln. Sie umreißen ein Deutschland, das stets im Dunkeln zu lauern scheint, in unserem Unterbewusstsein. Ein dumpfes Deutschland, das sich selbst nicht kennt, das sich beinahe lustvoll in eine Handlungsstarre manövriert und das dann, wenn wir nicht aufpassen, als Monster wieder aufwacht. Aber befinden wir uns nach der Wahl und mit der beinahe absoluten Mehrheit einer CDU-Kanzlerin tatsächlich in so einer Vor-Monster-Zeit?
Keine Ideen für die Zukunft
Viele haben jedenfalls das Gefühl, es bewege sich nichts. Keiner scheint über die nächste Quartalsbilanz hinauszudenken, niemand hat überzeugende Vorschläge für die Zukunft parat: Die Ökologie, die Sozialsysteme, der rasante Umbau der Erwerbsverhältnisse, Big Data und Bürgerrechte. Die Welt dreht sich eindeutig schneller als die Parteiprogramme es vorsehen. Für die Politik bedeutet das: hoher Entscheidungsdruck bei gravierender Unklarheit.
Interessant ist nun, dass Angela Merkel damit der Lebensrealität vieler Menschen sehr nahe kommt. Auch viele Bürger kommen nicht vom Fleck und wissen nicht so genau, mit wem sie sich verbünden sollten, wo sie hingehören. Sind sie noch Gewinner? Oder doch schon Verlierer? Gehören sie zu den Glückspilzen, den Gefährdeten, den Geradenochmaldavongekommenen oder den Gelackmeierten? Eingeklemmt zwischen Flexibilisierungsdruck und Ehrenamtsappellen, verlängerten Arbeitszeiten und Fortpflanzungsbefehl, zwischen der Ermunterung zum Konsum für den Binnenmarkt und dem Aufruf zur Müllvermeidung fürs Klima, eingeklemmt zwischen dem Willen zur Weltoffenheit und den eiskalten Schauern der Statusangst, sollen wir heute alles sein. Und sind doch bloß: ein bisschen zufrieden, ein bisschen unzufrieden, und vielleicht auch ein bisschen zu fett. Der Bürgeralltag hat einen Nicht-Fisch-, Nicht-Fleisch-Geschmack angenommen. Und auch das erinnert uns wieder an Angela Merkel.
Ihr Wahlsieg wirkt auf den ersten Blick wie ein „Weiter so!“ in Leuchtbuchstaben. Aber das ist nicht möglich, denn Merkel muss Kompromisse machen, 59 Prozent der Wähler haben gegen sie gestimmt. Eine Große Koalition sei ganz im Sinne der Mehrheit, sagen jetzt einige Demoskopen. Eine steile Behauptung. Weder die Union, noch die SPD sind mit dieser Ansage zur Wahl angetreten. Es gibt andere, die rechnen vor, dass es eine linke Mehrheit gibt. Das klingt erfrischend, ist aber auch nur hingebogen. Mit 25 zu 41 Prozent ist Peer Steinbrück eindeutig nicht der Wunschgeschäftsführer der Deutschen. Und wenn man das gegenteilige Rechenbeispiel aufstellt und AfD und FDP hinzunimmt, sieht man, dass die Mehrheit genau das ablehnt: Rot-Rot-Grün.
Deutschland, was willst du? Niemand kann diese Frage im Moment beantworten. Tatsächlich steckt das Wahlergebnis voller Merkwürdigkeiten. Da entwickeln sich die Großstädte angeblich zu autofreien Veganerkommunen, aber die Grünen verlieren dennoch etliche Anhänger. Da titeln Stern, Spiegel, Focus mit Burn-out-Schlagzeilen und warnen die Krankenkassen vor verschärftem Erwerbsstress, aber nur jeder Vierte hegt Sympathien für die Sozialdemokratie. Da hat so mancher Facebook-Bürger sich kürzlich noch von den Piraten anflirten lassen, aber kaum liegt die digitale NSA-Überwachung konkret auf dem Tisch, interessiert sich kaum noch jemand für die neue Partei. Da ist Kapitalismuskritik so sehr common ground, dass entsprechende Slogans schon auf T-Shirts gedruckt werden, und trotzdem verliert die Linke beträchtlich Stimmen. Da haben einige die Idee von Europa satt, aber auch wieder nicht satt genug, als dass sie der AfD zu genug Stimmen verhelfen. Da glauben viele noch immer irgendwie an den Liberalismus, die Marktschreierei der FDP aber kann wirklich niemand mehr hören. Und all das führt wieder zurück zum Anfang: Angela Merkel bleibt. Der Laden muss halt weiterlaufen, irgendwie. Das ist die einzige klare Botschaft dieses Wahlergebnisses.
Die Lokomotive Europas
Nicht Fisch, nicht Fleisch: Das zeigen auch die zwei großen Erzählungen, die über das Deutschland der Gegenwart im Umlauf sind. Die eine handelt von der Lokomotive Europas, von weltweiten Exportüberschüssen, einem nationalen Jobwunder und den höchsten Privatvermögen, die sich seit Beginn der Republik angesammelt haben. Die andere handelt von der sogenannten Schere, von prekären Jobs, steigenden Mieten, Altersarmut und verschimmelnden Grundschulen.
Und beide Erzählungen stimmen. Sie lassen sich mit allerlei Statistiken als Realitäten nachweisen. Und sie schlagen sich auch in diesem Wahlherbst nieder. Die einen reden alles so schön, dass man automatisch ins Grübeln kommt, was man selbst falsch macht, da die eigenen Überschüsse sich doch arg in Grenzen halten. Die anderen sprechen von einer Spaltung, was oft so klingt, als stünde ein Bürgerkrieg kurz bevor, wofür es bislang aber keine Anzeichen gibt.
Man muss also näher rangehen, um das Zähneknirschen zu hören. Da ist etwa der Flaschensammler: Erst kürzlich hat er sich zu uns gesellt. Bis in die Nullerjahre war es für die deutsche Gesellschaft undenkbar, dass Menschen im Müll nach Verwertbarem wühlen, direkt vor schicken Shopping-Fassaden. Es hätte als würdelos gegolten, würdelos für die Gemeinschaft. Der Schock war schnell weggelächelt. Nur drei, vier Jahre später war der Flaschensammler voll in die Fußgängerzonen integriert. Freundlich wird ihm zugenickt. Andere würden stattdessen gern irgendwie politisch handeln. Und so rufen sie in Initiativen dazu auf, Pfandflaschen nicht mehr in die Tonnen zu werfen, sondern daneben zu stellen. Damit die Sammler leichter herankommen.
Ebenso neu wie der Flaschensammler, aber am anderen Ende der sozialen Skala, ist die Latte-Macchiato-Mutter aufgetaucht. Wenn die Nachrichten zu Offshore-Banking und Steuer-CDs mal wieder ins Kraut schießen, kriegt die Macchiato-Mutter eins vors Schienbein. Meist nur rhetorisch und stellvertretend für den ungleich verteilten Wohlstand und das Großübel Gentrifizierung. Manchmal genügt schon „der Sound der Rollkoffer“, wie Christiane Rösinger schrieb, und die Zornesader schwillt. Weil der Rollkoffer halt auch wieder ein Sendbote des globalisierten Casinokapitalismus ist, egal, wer ihn gerade hinter sich herzieht.
Das zufriedene und friedliche Deutschland: der Firnis dünn. Es wird gekämpft, bislang allerdings vor allem symbolisch, theatralisch, und notfalls auch gegen sich selbst. Die Gesellschaft für Konsumforschung stellte unlängst fest, dass der Gebrauch laktosefreier Produkte heute vier Mal so hoch ist wie noch vor fünf Jahren, obwohl die Zahl der Betroffenen gar nicht steigt. Nur 5 bis 15 Prozent der Mitteleuropäer tragen eine entsprechende Veranlagung in sich. Von einem Noceboeffekt spricht die Psychologie, wenn man sich die schädliche Wirkung von etwas so sehr einbildet, dass sie tatsächlich eintritt.
Neues deutsches Massenphänomen
Und vielleicht hat die massenhafte neue Laktoseintoleranz auch etwas mit Deutschland zu tun: Irgendwo muss die Unzufriedenheit hin. Also gibt man ihr einen Namen, um sie sogleich mit den richtigen Konsumentscheidungen zu bearbeiten und letztlich zu beheben. Nicht mehr als ein Versuch, die Kontrolle über das eigene Leben physisch fühlbar zu machen: irgendwie verständlich. Und als neues deutsches Massenphänomen sozialpsychologisch höchst interessant.
Wir hängen noch immer am Script der nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Es klebt wie ein überholtes Selbstbild an uns fest. „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, so hatte der Soziologe Helmut Schelsky in den fünfziger Jahren die junge Bundesrepublik skizziert. Er gab dem Land damit einen kleinen Gründungsmythos mit. Und der hält sich bis heute. Obwohl das Land jetzt ein ganz anderes ist, benutzt es noch immer das alte Vokabular. Wenn Begriffe wie Umverteilung oder gar Vollbeschäftigung fallen, wie auch in diesem Wahlkampf, dann spricht eigentlich das Schelsky-Deutschland. Es ist eine Zombie-Sprache, und in ihr verbirgt sich eine Zombie-Identität.
Besonders deutlich wird die deutsche Zombiehaftigkeit in der Fetischisierung des Begriffs Mitte. Die Mitte war einmal die Fiktion, die das Land zusammenhielt. Sie nährte sich aus mehr oder minder geradlinigen Biografien. Gerhard Schröder tat 1998 so, als habe er eine neue Mitte erfunden, und schoss wenig später die Agenda 2010 heraus. Jetzt liegt eine Dekade der Kampf-Flexibilisierung hinter uns – und die Mitte ist nebulöser denn je. Wo genau läge sie denn? Wer gehört dazu? Wie sieht sie aus, was denkt, hofft, fürchtet sie? Definiert sich die Mitte nur übers Geld? Oder auch über die Bildung? Über den Lebensstil? Gar über etwas Wolkiges wie Werte?
Drinnen oder draußen
Ab wann ist man draußen? Und wie käme man wieder rein? Wenn man nur als Aufstocker über die Runden kommt, weil man bloß einen Minijob hat und keinen Schulabschluss: noch drinnen? Eher nicht, oder? Wenn man nur als Aufstocker über die Runden kommt, weil man es als freier Sprachlehrer allein nicht schafft, obwohl man ein Doktor der Romanistik ist und dreisprachig bloggt: Noch drinnen? Irgendwie schon, oder? Wenn man das Abitur auch im zweiten Anlauf nicht gepackt hat, weil man schon damals zu viele Pillen schmiss, und auch sonst nichts auf die Beine gestellt hat, aber mit 35 einen Vorabanteil des satten elterlichen Erbes überschrieben bekommt und sich daraufhin Consultant auf die selbstgedruckten Visitenkarten schreibt, nur mal so, als Joke der Erbengeneration: auf jeden Fall drinnen!
Wäre das Land vernünftig statt sentimental, würde es aufhören, sich etwas vorzumachen. Es würde sich als das begreifen und benennen, was es ist: eine Klassengesellschaft.
Viele ekeln oder fürchten sich vor dem K-Wort. Es klingt rückwärtsgewandt und verdächtig nach DDR. Andererseits leben wir ja in einer Zeit, die befreit ist von allen Ideologien. So heißt es doch immer. Den Abziehbildproletarier, lebenslang im Blaumann am Fließband, gibt es nicht mehr. Aber die Pole Arbeit und Kapital bestehen fort, sie sind ja das Getriebe der Maschine Deutschland. Unser heutiger Proletarier steht als Securitybär vor einem Showroom, um die Güter zu überwachen, deren Abverkauf einige Shareholder sicher sehr glücklich macht. Der Proletarier kann auch einen grauen Filzpulli tragen, extrem schlau sein und eine packende Niedriglohnreportage über den Securitybär schreiben, für einen Medienkonzern, der Content bestellt hat. Und dann bekommt der schlaue Filzpulliproletarier für sieben Tage Reportagearbeit etwa so viel, wie der Securitybär in drei Tagen zugigen Herumstehens verdient.
Middle-Class-Märchen
Der Spiegel schrieb von „Zweiklassen-Belegschaften“, die Welt von einer „Zweiklassen-Bohème“. Die Klassen unterscheiden sich heute nicht mehr nur ökonomisch, sondern auch in ihrem Globalisierungsgrad. Es gibt noch die alten Verträge, schwer kündbare Normalarbeitsverträge, beneidenswerte Mietverträge. Und neue, lustigerweise immer noch atypisch genannte Arbeitsverträge, gestaffelte Mietverträge usw. Das ist der positive Effekt des neoliberalen Sturms: Er hat den Nivellierungsschleier weggefegt. Es herrscht jetzt freie Sicht auf die Verhältnisse.
„Die Eliten nahmen es als gegeben hin, dass es keine Jobs zwischen acht Dollar und einem sechsstelligen Jahresgehalt mehr gab. Sie hatten keine Antworten mehr auf die Probleme der Mittelschicht“, hat der Journalist George Packer jüngst den USA attestiert. Einem Land, das sein eigenes Middle-Class-Märchen pflegt und droht, auseinander zu fliegen. Wir müssen nicht zum großen Bruder herüberschielen, wir wissen es auch so schon: Dass ein Mindestlohn von 8,50 Euro (SPD) oder 10 Euro (Linke) nichts anderes bedeutet, als dass es bald kaum noch normale Jobs gibt, in denen man mehr verdient. Es ist egal, ob gesetzlich oder tariflich: Der Mindestlohn ist wieder eine dieser Zombie-Ideen. Auch deshalb hat sie keine Wähler gelockt.
Deutschland stellt sich dümmer, als es ist. Es könnte genau jetzt, aus seiner Position der Stärke und mit dem sozialen Frieden (noch) im Rücken, ein wegweisendes Modell für die postindustrielle Gesellschaft entwerfen. Als fortschrittlichste Klassengesellschaft des Planeten. Und trotzdem kapitalistisch, wenn es unbedingt sein muss. Zuerst müsste es sich von seiner Mitte-Rhetorik verabschieden, um dann eine Idee zu entwickeln, wie eine Gesellschaft auch unter den heutigen Bedingungen wieder etwas wie ein Mitte-Gefühl hinbekommt.
Der Merkel-Sieg erscheint vielen wie ein Fluch, aber er könnte ein Segen sein. Lassen wir sie doch die nächste Runde allein übernehmen! Als Minderheitskanzlerin. Vom Bundestag geduldet und, wo nötig, beaufsichtigt. Als Interims-CEO fürs Grobe. Unterdessen könnte das Land zur Besinnung kommen. Die Bürger, und vor allem auch die Parteien. Verhaltene Vorschläge zu einer Bürgerversicherung gibt es hie und da, gab es sogar bei der FDP. Auch zu einem Grundeinkommen werden schon diskrete Rechenspiele angestellt, ganz, ganz heimlich sogar in der SPD. Vielleicht brauchen solche Dinge mehr Zeit. Die Verfassungsrechtler könnten das geduldete Merkel-Interregium nutzen, um ein bisschen mehr Direktdemokratie ins Grundgesetz einzubauen. Und bei der Gelegenheit könnten wir auch endlich mal über die Verfassung abstimmen, wie sie es ja vorsieht, ohne dass es je geschehen ist.
Achtung, Achtung, dieser Vorschlag kommt aus der Mitte des Irgendwas: Lassen wir Merkel den Buchhaltungskram noch eine Runde erledigen. Nutzen wir doch Muttis Fürsorge und denken uns derweil in Ruhe und mit sehr, sehr scharfen Sinnen etwas Vernünftiges aus. Was sind vier Jahre, wenn da draußen die endlose Zukunft unbetreut herumliegt?
Katja Kullmann, geboren 1970, setzt sich als Autorin vor allem mit Geschlechterfragen, den Themen Arbeit, Pop und soziale Gerechtigkeit auseinander. Sie schrieb unter anderem die Bücher Generation Ally und Echtleben. Warum es heute so schwierig ist, eine Haltung zu haben. Zuletzt erschien bei Suhrkamp die Reportage: Rasende Ruinen. Wie Detroit sich neu erfindet
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